von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 22.11.2023
Verloren auf einem Meer voller Gefahren
Die Frauenfelder Illustratorin Rina Jost hat mit „Weg“ eine berührende Graphic Novel vorgelegt. Sie erzählt darin bildstark die Geschichte ihrer an Depressionen erkrankten Schwester. Von der Internationalen Bodensee Konferenz (IBK) erhielt sie dafür in diesem Jahr einen mit 10.000 Franken dotierten Förderpreis. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Manchmal helfen ja Zahlen dabei, die Dimension eines Problems zu verstehen. Zum Beispiel diese hier: 37 Prozent der befragten Jugendlichen haben bei der UNICEF-Studie zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen in der Schweiz und Liechtenstein vor zwei Jahren angegeben, von psychischen Problemen betroffen zu sein. 17 Prozent der Jugendlichen mit Anzeichen einer Angststörung und/oder Depression haben demnach bereits versucht, sich das Leben zu nehmen.
Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ab 15 Jahren hat das Bundesamt für Gesundheit 2017 ermittelt, dass Depressionen, die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung in der Schweiz ist. 9 Prozent der Schweizer:innen leiden demnach an Depressionen. Frauen (9 Prozent) und junge Menschen (13 Prozent) sind nach dieser Erhebung häufiger betroffen als Männer (8 Prozent) und Personen ab 65 Jahren (4 Prozent).
Die Geschichte, die Jost zeichnet, hat sie selbst erlebt
Wer sich von kühlen Zahlen nicht beeindrucken lässt, der kann noch immer zu Literatur und Sachbuch greifen. Es gibt eine Vielzahl von Publikationen, die schildern, was Depressionen mit Menschen machen. Die Frauenfelder Illustratorin Rina Jost hat jetzt ihren eigenen Beitrag dazu geliefert - die Graphic Novel „Weg“ (erschienen bei Edition Moderne).
„Ich habe die Idee dazu seit 2015 mit mir herum getragen, jetzt ist das Buch endlich erschienen“, sagt Jost im Gespräch mit thurgaukultur.ch. Die Geschichte war ihr auch ein persönliches Anliegen - ihre Schwester ist an Depressionen erkrankt. So trägt der Comic autobiographische Züge, ist aber in weiten Teilen auch fiktionalisiert.
Die Unterscheidung zwischen einem Comic und einer Graphic Novel ist fliessend, es gibt keine einheitliche Definition, die von allen Menschen akzeptiert wird. Dennoch gibt es einige allgemeine Unterschiede, die häufig diskutiert werden:
Umfang und Format:
Ein Comic ist in der Regel kürzer und besteht aus kurzen, wiederkehrenden Episoden. Comics können einzelne Strips, kurze Geschichten oder längere Serien umfassen. Eine Graphic Novel ist normalerweise länger und umfasst eine zusammenhängende Geschichte. Sie ist eher wie ein Buch aufgebaut und kann eine komplette Handlung umfassen.
Erzählstruktur:
Comics neigen dazu, sich auf kurze, sich wiederholende Episoden zu konzentrieren, während Graphic Novels oft eine durchgehende, zusammenhängende Handlung haben. Graphic Novels können eine komplexere Erzählstruktur aufweisen.
Inhalt und Zielgruppe:
Comics können für ein breiteres Publikum gestaltet sein, von Kindern bis zu Erwachsenen. Einige Comics sind humorvoll, andere ernster. Graphic Novels neigen dazu, eine ernsthaftere, tiefgründigere Handlung zu haben. Sie können sich an ein erwachseneres Publikum richten und komplexe Themen behandeln.
Stil und Ästhetik:
Beide können verschiedene Stile und Ästhetiken haben, aber Graphic Novels neigen dazu, eine breitere Palette von künstlerischen Stilen und experimentelleren Ansätzen zu umfassen.
In „Weg“ erzählt die an der Luzerner Hochschule ausgebildete Illustratorin die Geschichte der beiden Schwestern Sybil und Malin. Die eine (Sybil) ist an Depressionen erkrankt und kommt nicht mehr aus ihrem Zimmer, die andere (Malin) sucht nach den Gründen dafür und versucht ihre Schwester aus der bleiernen Traurigkeit zu befreien. Den Titel der Graphic Novel, „Weg“, kann man in diesem Sinne auch zweideutig verstehen. Sybil ist durch ihre Krankheit wie weg, Malin macht sich mit ihrem Hund Wilma auf den Weg, um ihre Schwester zu finden.
Auf diesem Weg in die Welt der psychischen Erkrankungen trifft Malin allerlei merkwürdige Gestalten: Fleischfressende Pflanzen, eine weisen Krämerin, drei Schicksalsfrauen. Sie betritt den Wald der Steine, läuft zur ewigen Weide, schnappt sich einen toten Hai als Kumpanen und verliert sich beinahe selbst in dieser unheimlichen Welt. Ja, diese Geschichte ist ein ziemlich wilder Ritt.
Zu viel Niedlichkeit für ein so kantiges Thema?
Gezeichnet hat Rina Jost ihre Geschichte in klaren, reduzierten Bildern, die am Anfang ein bisschen durch ihren Hang zur Niedlichkeit und runden Form irritieren: Passt das wirklich zu einem so kantigen Thema? Aber je länger man liest und schaut, um so mehr stellt man fest, dass der erste Eindruck getrogen hat, die Kantigkeit war von Anfang an in den Bildern, sie wächst jedoch mit dem Verlauf der Geschichte.
Ohnehin gilt: Viele der Bilder, die Rina Jost findet, sind extrem eindrücklich. Herausragend dabei die Folge der 16 Einzelbilder, in denen sie zeigt, wie eine Depression einen Menschen zu Stein werden lässt. Oder auch die Szene, in der Malin völlig ausgelaugt und erschöpft auf ihrem toten Hai nach scheinbar verlorenem Kampf um ihre Schwester auf einem Meer voller Gefahren und Ungeheuer treibt (siehe Titelbild dieses Textes). Der Illustratorin gelingt es aussergewöhnlich gut, so schlüssige Bilder für Gefühle zu finden, dass jede:r denkt, ja, genau so muss sich das anfühlen. Das ist ziemlich grossartig.
Drei Jahre Arbeit stecken in dem Buch
2015 hatte die Illustratorin erstmals die Idee zu dem Comic, danach arbeitete sie immer mal wieder sporadisch daran. Erst die Pandemie habe dem Projekt den notwendigen Schub verliehen: „Da hatten sich Prioritäten verschoben, ich habe mich gefragt, was ich wirklich machen will und kam dann schnell auf diese Geschichte zurück“, erklärt die Illustratorin.
Insgesamt drei Jahre Arbeit steckten jetzt in dem Buch, sagt Jost. Sie hat dafür sogar einen eigenen Comic-Workshop besucht, um zu verstehen, wie das Medium funktioniert. „Es war extrem aufwändig, freiwillig hätte ich mir das Medium Graphic Novel nicht ausgesucht, es war hier eher so, dass das Medium mich gefunden hat“, blickt Jost zurück.
Text und Bilder seien jeweils parallel entstanden. Gezeichnet habe sie analog wie digital. Welche Szenen auf welche Weise geschaffen wurden, wisse sie manchmal selbst nicht mehr so genau, sagt die Illustratorin und lacht. Im Ergebnis ist es tatsächlich nicht ersichtlich.
Man kann die Geschichte auf mehreren Ebenen lesen
Was den Comic so anschlussfähig für viele Menschen macht ist, dass er als aufklärerische Krankheitsgeschichte funktioniert, aber eben auch als spannende Abenteuergeschichte gelesen werden kann. Jede:r Leser:kann den Text auf eigene Weise entdecken.
Das alles kam bei der Internationalen Bodensee Konferenz (IBK) so gut an, dass sie der Frauenfelder Illustratorin in diesem Jahr einen von insgesamt sieben mit jeweils 10.000 Franken dotierten Kultur-Förderpreisen verliehen hat.
Der Förderpreise an Kulturschaffende der IBK wurde Ende Oktober 2023 in der Sparte Comic vergeben. Dr. Roland E. Hofer, Vorsitzender der IBK-Kommission Kultur, und Dr. Elisabeth Donoughue, Juryvorsitzende, überreichten die Preise vor mehr als 200 Gästen aus Kultur und Politik in der Inselhalle in Lindau. Durch den Abend führte Kulturjournalistin Christine Knödler.
Aus insgesamt 18 Nominationen hat eine internationale Jury mit Expertinnen und Experten im Bereich „Comic“ die sieben Preisträgerinnen und den Preisträger der diesjährigen IBK-Förderpreise ausgewählt.
Seit 1991 vergibt die IBK jährlich Förderpreise für Kulturschaffende. Die Preise sind insgesamt mit 70'000 Schweizer Franken dotiert. Wer ausgezeichnet wird, steht für herausragende Qualität und Zukunftspotential und hat die Chance, die eigene Wahrnehmung zu erhöhen.
Eine internationale Jury wählt die Preisträgerinnen und Preisträger aus dem Kreis der Nominierten aus. Die Nomination erfolgen durch die Mitgliedsländer und -kantone der IBK. Voraussetzung ist unter anderem ein biographischer Bezug zum jeweiligen Kanton oder Land.
Die Jury lobte in ihrer Laudatio: „Der Jury gefallen die bis zur Perfektion ausgearbeiteten Bilder, die von Rina Jost erschaffenen Bildwelten als Metaphern für die Abgründe der Seele und ihrer vielfältigen und diversen Bewohnerinnen und Bewohner. Es beeindrucken die Vielschichtigkeit in den Bildern, die sorgfältige Komposition der Geschichte und der persönliche Einsatz, den Rina Jost für dieses Werk geleistet hat.“
„Es beeindrucken die Vielschichtigkeit in den Bildern, die sorgfältige Komposition der Geschichte und der persönliche Einsatz, den Rina Jost für dieses Werk geleistet hat.“
Jury des Förderpreises der Internationalen Bodensee Konferenz (IBK)
Ausserdem erhielt Jost auch noch den Preis der der internationalen Jugendfachjury der IBK. Von dort hiess es: „Rina Jost geht spielerisch mit der Anwendung von Formaten, Perspektive und Farben um. Dadurch schafft sie eine Atmosphäre, in welcher sich die Lesenden komplett in die Geschichte hineinversetzen. (…) Den mit der Krankheit verbundenen Ängsten wird eine Form gegeben, welche sie greifbarer und verständlicher für Ausstehende macht.“
„Für mich war die Arbeit an dem Buch auch eine Form der Verarbeitung der Situation in meiner Familie“, sagt die Illustratorin. Wie es war, das Buch nach dem Druck als fertiges Produkt in den Händen zu halten? „Am Anfang war es komisch“, sagt Jost, „es war plötzlich als Objekt in der Welt und ich wusste, ich habe jetzt keine Kontrolle mehr darüber, wie es von den Leser:innen aufgenommen wird.“ Das Loslassen sei ihr schwer gefallen.
Auch ihre Schwester hat das Buch inzwischen gelesen
Besser wurde es, als sie Reaktionen auf das Buch mitbekommen hat: „Seit es erschienen ist, bekomme ich viele Nachrichten, die sehr schön sind. Von Depression betroffene Menschen haben mir geschrieben, dass ich ihre Gefühlslage gut wieder gebe. Auch ihre Schwester habe die Geschichte inzwischen gelesen. „Sie fand es gut“, sagt Rina Jost. Ihr gehe es inzwischen auch wieder besser. Aber Depression ist eine Krankheit, die man das Leben lang mit sich herumträgt.
Auch deshalb wünscht sich Rina Jost, dass man ihr Buch als Anlass nimmt über Depressionen und mentale Gesundheit zu sprechen. Es gibt zum Comic auch umfangreiches Begleitmaterial zu Unterstützungsmöglichkeiten, wenn man selbst von der Krankheit betroffen ist. Idealerweise gelingt es dem Buch so das Schweigen aufzubrechen.
Denn auch das zeigte die UNICEF-Studie zur psychischen Gesundheit junger Menschen von vor zwei Jahren: 29 Prozent der befragten Jugendlichen sagten damals, sie sprächen mit niemandem über ihre Probleme.
Unter allen Teilnehmer:innen verlosen wir zwei signierte und mit persönlicher Widmung versehene Exemplare von "Weg".
Teilnahme:
Sende eine E-Mail mit dem Betreff "Weg" mit vollständigem Namen und Postadresse, sowie den Namen für die Widmung an verlosung@thurgaukultur.ch
Teilnahmeschluss:
Freitag, 24. November 2023
Die Gewinner:innen werden per E-Mail informiert.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Hier gibt es das Buch
Das Buch (29,80 Franken) ist erhältlich im Buchhandel und über den Verlag „Edition moderne“
ISBN 978-3-03731-253-7
120 Seiten, farbig
18.5 × 26 cm, Hardcover
Rina Jost stellt das Buch auch in Lesungen vor. Die nächsten Termine:
3. Dezember, 17 Uhr, Sofalesung Zürich
27. März 2024, Literaturhaus Thurgau, Co-Veranstaltung mit Lika Nüssli
Bücherfest Frauenfeld 2024, Details folgen
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Auf Kinderaugenhöhe (21.10.2024)
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- Die Zukunft bleibt fern (04.10.2024)
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