von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 02.04.2019
Unterwegs in Brexit-Land
Der Fotograf Roland Iselin zeigt neue Arbeiten im Kreuzlinger Kult X. Ein Schwerpunkt liegt auf Bildern aus Nordirland, die zeigen, wie tief die Gräben des Misstrauens rund 30 Jahre nach den Unruhen dort immer noch sind.
Der Zeitpunkt für diese Ausstellung ist perfekt gewählt: Alle Welt redet gerade über das scheinbar nicht enden wollende Chaos um den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union und da zeigt der Fotograf Roland Iselin im Kreuzlinger Kulturzentrum Kult X Szenen aus Nordirland, einem Land, dem in dem ganzen Brexit-Schlamassel eine Schlüsselrolle zukommt. Eine Konsequenz eines harten Brexit wäre, dass wieder eine klare Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem zur EU gehörenden Irland entstünde. Eine solche Grenze, so die Befürchtung mancher Nordiren, könnte alte Wunde aus dem Jahrzehnte währenden Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten wieder aufreissen.
Die Bilder, die Roland Iselin in seiner Serie „Troubled Land“ nun zeigt, machen deutlich, dass das keine vage Angst ist, sondern die alten Gräben in Nordirland immer noch existieren. Alte IRA-Graffitis, Strassenzüge, die in britischen Landesfarben blau, weiss, rot gepflastert sind und überall Flaggen, die die unterschiedlichen Zugehörigkeiten demonstrieren. Iselins Aufnahmen lassen oft offen, ob das jetzt die alten Symbole der Trennung sind, oder ob da neue Dissonanzen entstehen. Deshalb kann man seine Bilder auch als Warnung verstehen: „Spielt nicht mal mit dem Gedanken, dort wieder Grenzposten zu errichten. Die Wirkung davon ist unberechenbar!“
Bilderstrecke: 5 Fotografien aus der Ausstellung
Was die Landschaften über die Menschen erzählen
Mit seinen Nordirland-Arbeiten folgt Roland Iselin einem alten Kollegen: Paul Graham fotografierte vor 30 Jahren Szenen des nordirischen Konfliktes. Eben jene Dörfer und Städte, die Graham damals besuchte, bereiste nun auch Roland Iselin mit seiner Kamera. Dabei will er Graham nicht kopieren, sondern seine eigene Sicht auf die Dinge legen. So klar die in ihrer Botschaft oft ist, bildästhetisch nimmt sich der Kreuzlinger Fotograf eher zurück. Die Bildausschnitte sind meistens weit gewählt, Menschen sind selten zu sehen. Und wenn, dann nur in einiger Entfernung. Die Landschaften stehen im Vordergrund, sie lassen letztlich aber auch einen Schluss zu über die Menschen, die in diesen Landschaften leben.
Tatsächlich gelingt Iselin das ziemlich gut. Zum Beispiel, wenn er spielende Kinder vor einer Hausfassade ohne Fenster und Türen ablichtet oder wenn er eine alte Wandbemalung mit zwei maskierten und schwer bewaffneten Paramilitärs sowie der Forderung auf das Recht zu Selbstverteidigung im Konfliktfall kontrastiert mit dem Bild eines verwundeten Mannes auf einem Werbeplakat, das dazu aufruft den Konflikt zu beenden. Manchmal wirken die weitgehend unbearbeiteten Aufnahmen beinahe zufällig. Sie sind es nicht. In Wahrheit sind sie sehr detailliert arrangiert. Roland Iselin ist ein exakter und exzellenter Beobachter und er versteht es Botschaften zu senden, ohne zu plakativ zu werden.
Die runter gekommene Route 66 - ein Symbol für den Zustand der USA?
Neben den Nordirland-Bildern zeigt die Kreuzlinger Ausstellung (kuratiert von Dorothea Cremer-Schacht) „Revisited (Twentysix Gasoline Stations & Troubled Land), 2017-19“ Aufnahmen aus den USA. Auch für die Serie „Twentysix Gasoline Stations“ folgte Iselin den Spuren eines Kollegen: Mitte der 1960er Jahre hatte Ed Ruscha in seiner gleichnamigen Serie Tankstellen auf der Route 66 ins Visier genommen. Ähnlich wie bei den Nordirland-Bildern ahmt Iselin den Vorgänger aber nicht einfach nach, sondern er sucht nach seinem eigenen Zugang.
Das ist schon deshalb notwendig, weil die Bilder, die Ed Ruscha festhielt, heute zum Teil gar nicht mehr existieren. Die 50 Jahre zwischen Ruscha und Iselin haben Spuren hinterlassen. Tankstellen sind verschwunden, Imbissbuden, Restaurants, Vergnügungsetablissements, Motels und Waschanlagen sind dazu gekommen. Iselin, so heisst es in der Medienmitteilung zur Ausstellung, wolle „eine Annäherung an Amerika von den Rändern her, dort wo es viel zu entdecken gibt“. In seinen grossformatigen Route-66-Arbeiten gibt es in der Tat viel zu entdecken - Kurioses, Unscheinbares, Überraschendes. Die Aufnahmen erzählen Geschichten über das Wesen des Unterwegs-Seins und den Zustand der USA.
Mitunter beobachtet Roland Iselin das mit sehr feinem Humor. Ein Foto seines Roadtrips zeigt zentral ein Bestattungsunternehmen. Schweift der Blick des Betrachters nach links, erkennt er ein Verkehrsschild mit der Aufschrift „One way“ und einem Pfeil darauf, der Richtung Bestatter zeigt. Ob das nun lediglich Iselins lakonischer Humor ist oder schon kritische Auseinandersetzung mit einem Land am Rande des Wahnsinns, darf jeder Besucher für sich entscheiden.
Die Ausstellung ist bis zum 17. April im Kult X in Kreuzlingen (Hafenstrasse 8) zu sehen. Die Öffnungszeiten: Fr 15 bis 20 Uhr, Sa und So, 13 bis 17 Uhr. Am Sonntag, 7. April, 11.30 Uhr, spricht Axel Lapp von der Kunsthalle Memmingen mit Roland Iselin.
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