von Bettina Schnerr, 22.07.2021
Spannend und vielseitig, aber oft wenig geliebt: Mathematik, die Sprache der Welt
Esther Brunner, Professorin für Mathematikdidaktik, erhält in diesem Jahr den Forschungspreis Walter Enggist für ihre Habilitation. Brunners Arbeit dreht sich um die Frage, wie guter Mathematikunterricht aussieht. „Das schönste Fach der Welt“, so Brunner, ist viel mehr als Kindern das Einmaleins beizubringen.
Wir sprechen über ein Fach, das bei vielen Menschen gar nicht gut wegkommt und viel Abneigung auslöst. Das ist für Lehrpersonen schwer auszubügeln, oder?
Das ist ein zentrales gesellschaftliches Problem und ich bin immer ganz erstaunt, wie salonfähig das ist. Ich habe kaum je erlebt, dass jemand sagt „Ich war in Rechtschreibung nie gut“ oder „Ich habe Goethe nicht verstanden“. Man merkt gar nicht, dass man Kindern damit einen Lernweg verbaut. Oft ist es als Trost für schwierige Phasen gemeint. Tatsächlich erreicht man das Gegenteil.
Inwiefern?
Man gibt Kindern zu verstehen: Mathe kann man oder man kann es nicht. Hat man keine Begabung, könne man eben nichts machen. In der Folge fehlt Kindern die Selbstwirksamkeit. Genau die aber muss man den Kindern mitgeben und sie ermutigen.
Galileo Galilei soll gesagt haben, dass Mathematik die Sprache ist, in der die Welt geschrieben ist und so begreife ich dieses Fach auch. Deshalb ist es so grossartig, weil man wie mit dem aktiven Einsatz von Sprache immer wieder die Grenzen des Geistes erweitern kann. Wir haben von klein auf mit Dingen zu tun, die nicht unmittelbar greifbar sind. Denken Sie an eine Raumdiagonale. Die ist nirgends real eingezeichnet, aber wir können sie uns vorstellen. Auch eine Zahl ist ein Konstrukt, die ich erlebe, wenn ich beispielsweise etwas abzähle. Aber an sich ist sie ein Konstrukt mit einem noch grösseren Konzept dahinter.
Haben Sie eine Erklärung, warum ausgerechnet Mathematik so angefeindet wird?
In der Mathematik muss man streng logisch und lückenlos denken. Das ist sicher das Eine. Das Andere ist Mathematik als Leistungsfach. Schon die Erstklässler und Erstklässlerinnen wissen, dass sie da gut sein müssen. Das kann den Blick versperren für die Grossartigkeit der Mathematik.
Es wäre schön, wenn man zum Beispiel öfter spielerisch mit Mustern umgehen könnte und überlegt, wie sie zustande kommen und warum sie funktionieren. Aber mit dem permanenten Leistungsgedanken im Hinterkopf ist ein entspanntes Lernen erschwert. Manchmal muss man eine Frage auf sich wirken lassen, etwas durchdenken und ausprobieren. Es ist erlaubt, sich nicht in erster Linie für die richtige Lösung zu interessieren, sondern für die Gedankengänge, die zur Lösung führen.
"Man gibt Kindern zu verstehen: Mathe kann man oder man kann es nicht. Hat man keine Begabung, könne man eben nichts machen. In der Folge fehlt Kindern die Selbstwirksamkeit. Genau die aber muss man den Kindern mitgeben und sie ermutigen."
Esther Brunner, Professorin Mathematikdidaktik
Sie selbst haben zunächst eine Ausbildung zur Primarlehrerin absolviert und sich später auf Mathematik spezialisiert. Wie haben Sie Ihren persönlichen Zugang gefunden?
Ich habe schon in der Primarschule wahnsinnig gerne Mathematik unterrichtet und gesehen, dass Kinder einen Zugang über das Verstehen brauchen. Daher habe ich zusätzlich einen Nachdiplomstudiengang in Mathematikdidaktik gemacht und später den erziehungswissenschaftlichen, sonderpädagogischen und soziologischen Hintergrund ergänzt. Dann ist klarer zu sehen, warum der Zugang fehlt.
Wie gut lässt sich feststellen, welcher der beiden Faktoren Probleme macht, das Fach oder die Vermittlung?
Beides ist möglich, auch in Kombination. Letztlich geht es immer um das Verstehen. Nehmen wir als Beispiel die Pandemie und den Unterschied zwischen linearem und exponentiellem Wachstum. Den muss man verstehen. Eine Didaktik, die auf auswendig lernen setzt, hilft nicht. Im Unterricht muss man Kinder dazu bringen, sich auf Mathematik einzulassen. Dürrenmatt hat so schön gesagt: Büffeln kann jeder, aber Verstehen braucht Zeit.
"Letztlich geht es immer um das Verstehen. Nehmen wir als Beispiel die Pandemie und den Unterschied zwischen linearem und exponentiellem Wachstum. Den muss man verstehen. Eine Didaktik, die auf auswendig lernen setzt, hilft nicht."
Esther Brunner, Professorin für Mathematikdidaktik
Nun denken Kinder anders als Erwachsene. Wie sieht das in der Praxis aus?
Das ist für jedes Themengebiet unterschiedlich. Das Verständnis für Zahlen unterscheidet sich in der Entwicklung beispielweise von der räumlichen Entwicklung. Daher geht es in der der Lehrerbildung darum zu lernen, angemessen zu unterrichten. Mit einem 5-Jährigen muss man anders arbeiten als mit einem 12-Jährigen oder einer ganzen Klasse von 15-Jährigen.
Im Kindergarten arbeitet man zum Beispiel mit so genannten Vorkonzepten. Diese passen noch nicht ganz zu der Mathematik, die man später kennen lernt, aber sie müssen auch später noch einen Sinn ergeben. Sagt eine Kindergärtnerin etwa „Null ist nichts“, ist das schlicht falsch. Null ist nur dann „nichts“, wenn ich von einer Anzahl ausgehe. Da ist es nicht verwunderlich, dass es Kinder gibt, die meinen, 200 + 50 ergebe 7. Sie glauben, die Null könne man wegstreichen. Null kann aber auch der Anfang von Allem sein.
Solche Denkwege besser zu strukturieren, ist sicher eine Herausforderung, denn für die Kinder ist die eigene Logik völlig stringent und auch von aussen gesehen oft überraschend konsequent.
Das ist es. Kindliche Denkwege verlaufen zudem individuell unterschiedlich. Das muss man verstehen. Dann erst kann man falsche oder noch ungereifte Ideen aufspüren. Für manche Kinder ist eine gerade Zahl eine Zahl, die man mit geraden Linien schreibt. Abhilfe schaffen hier zum Beispiel Doppeltürmchen aus Legosteinen, denen man eine Ecke hinzuzufügt, sodass die Teilbarkeit durch Zwei nicht mehr klappt. Die Konzepte müssen für Kinder stimmig und später noch kompatibel sein.
Individuelle Unterschiede sprechen für eine gewisse Heterogenität in den Klassen. Wie fangen Lehrpersonen das am besten auf?
Das Auffangen gehört zum Standard. Das betrifft ja nicht nur die kognitiven Fähigkeiten, sondern auch den emotionalen oder sprachlichen Zugang. In der Primarschule ist der Effekt am grössten, weil hier oft Kinder mit Lernzielanpassungen und solche mit Hochbegabungen in einer Klasse sitzen. In stärker gegliederten Schulsystemen wird der Effekt schwächer, weil innerhalb der verschiedenen Niveaus die Bandbreite schmaler wird. Aber auch diese Klassen sind heterogen.
Die Voraussetzungen sollte man gezielt kennen lernen und den Unterricht entsprechend anpassen. Denn die öffentliche Schule hat eine Integrationsfunktion. Das bedeutet, möglichst alle Kinder im Klassenzimmer zu behalten. Bei der Balance helfen zum Beispiel Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, sodass möglichst jedes Kind vom Austausch profitieren kann.
Wie hält man die Motivation hoch? Rechenwege, die nicht immer so aussehen, wie es die Lehrperson gerne hätte, sind ja ganz gerne Anlass für Diskussionen und Frust bei der Punktevergabe.
In der modernen Didaktik muss man so etwas nicht nur zulassen, sondern sogar bewusst fördern! Jeder andere Lösungsweg vermittelt eine zusätzliche Einsicht in den Inhalt. Kinder sollen lernen, sich darüber auszutauschen und zu vergleichen. Hat einer der Wege vielleicht Vorteile? In der Prüfung muss der Lösungsweg ebenso wie die eigentliche Lösung Teil der Benotung sein. Es kann ja auch passieren, dass der Lösungsweg sinnvoll war, aber ein falsches Resultat herauskommt.
Blickt man auf die Entwicklung der Mathematikdidaktik, gibt es prägende Meilensteine?
Der erste Sprung kam Anfang der 1980er Jahre mit „Mathe 2000“. Bis dahin arbeitete man in der Schule primär mit dem Rechnen. Geometrie und Textaufgaben liefen nebenher mit. Dann änderte sich der Fokus auf „Mathematik als Lehre der Muster“. Das bedeutet zum Beispiel, einen Rhythmus über Zahlen oder Formen einzufangen und zu überlegen, wie Muster zustande kommen. Da begann die Auseinandersetzung mit richtigen mathematischen Konzepten.
Mit dem „Lehrplan 21“ kommt nun die Kompetenzorientierung mit dem Grundsatz: Wissen allein reicht nicht — man muss mit diesem Wissen etwas anfangen können, sonst kann man keine Probleme lösen, etwas begründen oder argumentieren. Nehmen Sie als Beispiel die Inzidenzwerte. Was bedeuten sie? Wie kann man sie nachvollziehen? Insofern ist die Kompetenzorientierung eine sehr konsequente Weiterführung vom Wissen über das Können hin zum Nutzen.
"Wenn 50,4 Prozent bei einer Abstimmung eine bestimmte Entscheidung treffen, aber nur 35 Prozent aller Stimmberechtigten teilgenommen haben, sollte man einschätzen können, wie viele Menschen effektiv entschieden haben."
Esther Brunner, Professorin für Mathematikdidaktik
Was ist das Ziel dieser Umstellung?
Wir wollen mathematische Literalität erreichen. Das bedeutet schlicht, dass alle am Ende der Schulzeit Mathematik in einem gewissen Umfang als mündige Bürgerinnen und Bürger nutzen können. In Abstimmungen zum Beispiel. Wenn 50,4 Prozent bei einer Abstimmung eine bestimmte Entscheidung treffen, aber nur 35 Prozent aller Stimmberechtigten teilgenommen haben, sollte man einschätzen können, wie viele Menschen effektiv entschieden haben. Es ist mehr als nur die Überlegung, ob das Bargeld reicht für die Waren im Einkaufskorb.
Mathematik ist weitaus häufiger eine Entscheidungsgrundlage als man denkt und ihre Problemlösungsstrategien lassen sich hervorragend übertragen. Das hilft bei Fragen, zu denen es keine Standardlösungen gibt.
Sie untersuchen in einem gemeinsamen Projekt mit Taiwan und Deutschland die mathematische Bildung an Kindergärten und prüfen, ob dabei Unterschiede durch die kulturelle Prägung oder die Ausbildung der Kindergartenlehrpersonen auftreten. Setzen sich denn etwaige Unterschiede im späteren Lernen fort?
Solche Vergleiche sind schwierig und ich warne eher davor. Wir sehen, dass man letztlich mit verschiedenen Ansätzen zu einem guten mathematischen Arbeiten kommt. Hinzu kommt, dass Unterrichtsformen in den kulturellen Kontext passen müssen. Ein hoch disziplinierter Unterricht, wie er in China stattfindet, wäre sicher nicht kompatibel mit unserem Verständnis von Lehre.
Unsere generellen Ziele sind Verständnis und mehr Bildungsgerechtigkeit. Unsere Forschung soll beispielsweise helfen, sprachliche Hindernisse abzubauen. So etwas muss aufgefangen werden, denn es geht nicht nur um einzelne Begriffe. Kinder müssen mathematische Beziehungen in Worte fassen können, wie Brüche oder Prozentzahlen und solche Kurzformulierungen verstehen können. Im Unterricht steht man oft vor dem Wechsel zwischen Inhalten und Formelsprache, die hin und her ineinander verwandelt werden müssen. Die bisher eher holzschnittartigen Konzepte lassen sich dank der fachdidaktischen Forschung stetig verfeinern und anpassen.
Youtube-Tipp von Esther Brunner
Einblick in die prämierte Habilitationsschrift von Esther Brunner
Bei den bisherigen Entwicklungen in der Mathematikdidaktik fehlte weitestgehend die empirische Forschung als Entscheidungsbasis. Die Initianten gingen grundsätzlich davon aus, dass die Konzepte funktionieren würden. Die Forschung von Esther Brunner schafft nun faktische Grundlagen für weitere Entscheidungen. Zur Qualität von Schulunterricht gibt es in der allgemeinen Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung viel und gut belegtes Wissen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass Klassenführung und Motivation eine grosse Rolle spielen und dass Kinder zum Denken angeregt werden müssen. Aber es gibt keine Antwort auf die Frage, was das für ein ganz bestimmtes Fach in der Praxis bedeutet.
Das ist das Neue an Brunners Arbeit: Die allgemeinen Erziehungswissenschaften interdisziplinär mit der Fachdidaktik zu verknüpfen, um den Unterricht aus der Perspektive des Fachs und des jeweiligen fachlichen Denkens zu betrachten. Dafür wertete Brunner zwölf ihrer teils bereits bestehenden Arbeiten neu aus nach der Frage, woran man konkret die Qualität von Mathematikunterricht erkennt. Ein „guter“ Unterricht aus der allgemeinen Perspektive heraus kann also trotzdem problematisch aus fachlicher Sicht sein.
Die allgemeinen Merkmale müssen in den einzelnen Fächern tiefer gehen und den Inhalten angepasst werden: Qualitätsmerkmale sollen sich aus konkreten Inhalten ableiten. Ein Unterricht, der beispielsweise den Satz des Pythagoras beweisen soll, muss anders aufgebaut werden als einer, in dem das Einmaleins vielfältig geübt werden soll. Das ist der Maxime „form follows function“ vergleichbar, die von Architekten und Designern eingesetzt wird.
Weitere Beiträge von Bettina Schnerr
- Dreckiges Erbe (20.02.2023)
- Wie hart trifft die Energiekrise die Kulturbranche? (28.11.2022)
- Plötzlich Hauptfigur (14.11.2022)
- Hinter den Kulissen von Licht- und Farbenzauber (09.09.2022)
- Jägerin des verborgenen Schatzes (04.07.2022)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Interview
- Forschung
- Bildung
Ähnliche Beiträge
Annäherung an den Tod
Wie will ich mein Lebensende gestalten? Ein Forschungsprojekt der OST Fachhochschule Ostschweiz widmet sich dieser Fragestellung. Und nutzt dabei auch Instrumente der Theaterpädagogik. mehr
«Es gibt keinen anderen Weg!»
Seit Mai ist Noemi Bearth Direktorin im Historischen Museum Thurgau. Welche Pläne hat sie? Ein Interview über Baustellen, Kinder im Museum und die grosse Frage, was man aus Geschichte lernen kann. mehr
Igel gesucht
Ein Projekt des Naturmuseum Thurgau begibt sich auf Spurensuche nach dem beliebten Tier im Thurgauer Siedlungsraum. mehr