Seite vorlesen

von arttv, 21.11.2025

Reflexionen aus dem beständigen Leben

Reflexionen aus dem beständigen Leben
Louisa Gagliardi, Self-portrait, 2025 | Courtesy the artist and Galerie Eva Presenhuber, Zurich / Vienna © Louisa Gagliardi | © Louisa Gagliardi

Drei Schweizer Künstler:innen und die Neue Sachlichkeit: Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser und Louisa Gagliardi im Kunst Museum Winterthur. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Neuen Sachlichkeit feiert das Kunst Museum Winterthur die figurative Malerei. In der Ausstellung mit dem Titel «Reflexionen aus dem beständigen Leben» treffen drei Schweizer Künstlerpersönlichkeiten aufeinander, die sich durch ihren klaren Blick und ihre neue und – scheinbar – sachliche Darstellung auszeichnen.

Jetzt das ganze Video ansehen

Adorno und die Bedingungen des Menschseins

Während der Basler Niklaus Stoecklin (1896–1982) zu den Wegbereitern und Protagonisten der Neuen Sachlichkeit zählt, ist die zehn Jahre später geborene Luzernerin Liselotte Moser (1906–1983) eine weitgehend unbekannte Künstlerin, die es in der Winterthurer Ausstellung zu entdecken gilt. Das Schaffen dieser beiden historischen Figuren wird durch den zeitgenössischen Beitrag der jungen Walliserin Louisa Gagliardi (*1989) reflektiert und in die Gegenwart überführt.

Allen drei gemein ist ihr scharfer Blick auf die Welt, ihre sorgfältige und an malerische Traditionen anknüpfende Arbeitsweise, die sie zu einer jeweils ganz eigenständigen figurativen Kunstsprache führt – eine Sprache, die sich auf einen ersten Blick schnell erschliesst, bei genauerer Betrachtung jedoch Tiefgründiges und Verborgenes offenbart und zum Nachdenken einlädt. Der Titel der Ausstellung referiert auf Theodor W. Adornos wichtige Schrift Minima Moralia, die ihrerseits den Untertitel Reflexionen aus dem beschädigten Leben trägt.

 

Niklaus Stoecklin, Selbstbildnis, 1918 | Kunst Museum Winterthur, Schenkung von Balthasar und Nanni Reinhart-Schinz 1994, Foto: SIK-ISEA, Zürich, Lutz Hartmann © 2025, ProLitteris, Zurich

 

Zu sehen bis 8. Februar 2026: Die Ausstellungsdaten

Reflexionen aus dem beständigen Leben – Niklaus Stoecklin | Liselotte Moser | Louisa Gagliardi | Kunst Museum Winterthur | 4. Oktober 2025 bis 8. Februar 2026 | Kunst Museum Winterthur, Reinhart am Stadtgarten | Zur Ausstellung erscheint eine reich bebilderte Publikation bei Scheidegger & Spiess.

Adorno schrieb dieses Hauptwerk im amerikanischen Exil. Er setzt sich darin mit den Bedingungen des Menschseins im 20. Jahrhundert auseinander, ganz ähnlich, wie es auch die drei Kunstschaffenden der Ausstellung tun. Während Adorno aber vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs das Leben als «beschädigt» ansah, will die Ausstellung das Nachdenken der Malerei im Bogen des 20. Jahrhunderts als eine «beständige» Reflexion über Realitäten und Realismen verstehen – nicht ohne deren Veränderungen nachzuspüren.

Magischer Realismus

Als 1925 in Mannheim die Ausstellung Neue Sachlichkeit, kuratiert vom Kunsthistoriker und Museumsdirektor Gustav Hartlaub, eröffnet wurde, war Niklaus Stoecklin der einzige nichtdeutsche Künstler, dessen Werke dort gezeigt wurden. Er hatte mit seiner neuen Malerei für Aufsehen gesorgt, weil er die Formen und Farbexperimente eines Expressionismus hinter sich liess und aus dem Kubismus schöpfend zu einer neuen Deutlichkeit und Klarheit des Ausdrucks fand.

Mit seinen frühen Hauptwerken der Casa rossa (1918) und der Vorstellung (1920–1921) ebnete er den Weg für eine Kunstrichtung, die sich an den alten Meistern der Gotik orientierte und daraus eine neue Bildsprache erschloss, die nach den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs wieder mehr Orientierung und Halt bot und zur Kunst der 1920er-Jahre wurde. Gerade diesen frühen Hauptwerken wohnt etwas Rätselhaftes, ja Surreales inne, ein leiser Klang des Verborgenen, der hinter der Fassade, der scheinbar so deutlich lesbaren Darstellung liegt. Bei Betrachtung dieser Malerei wundert es nicht, dass der künstlerischen Strömung auch der Name «Magischer Realismus» gegeben wurde.

Liselotte Moser ist mit dieser Kunst aufgewachsen. 1906 in Luzern geboren, übersiedelte sie mit 20 Jahren in die USA, wo ihre Mutter Adèle Coulin Weibel als Kuratorin der Textilabteilung des Detroit Institute of Arts tätig war. Wohl unter dem jugendlichen Einfluss der Neuen Sachlichkeit in Europa und später unter dem Eindruck des Amerikanischen Realismus entwickelte Moser ihren eigenen sachlichen Zugang zur Welt.

 

Liselotte Moser, Selbstporträt, 1930 | Nidwaldner Museum Stans, Dauerleihgabe der Gemeinde Stans Foto: Christian Hartmann

Zeitgenössische Fragen mit zeitgenössischen Medien beantworten

Weil sie an Kinderlähmung erkrankt und ihre Mobilität deshalb sehr eingeschränkt war, entwickelte sie eine scharfe Beobachtung ihrer Lebensrealität. So gehören Stillleben, Selbstporträt und Blicke aus ihrem Fenster zu den typischen Motiven ihres Schaffens. Auch bei ihr sind subtile Zwischentöne zu vernehmen und nicht selten mag man eine leichte Gesellschaftskritik erkennen, die auch vor sich selbst, dem eigenen Abbild nicht Halt macht und damit ihrem Werk eine geradezu existentielle Tiefe verleiht.

Bei Louisa Gagliardi geht es stets um gesellschaftliche Fragen, um Themen des alltäglichen Lebens und der Reflexionen darüber. Sie verhandelt diese an zeitgenössischen Fragen mit zeitgenössischen Medien. So entstehen ihre Bilder nicht mit dem Pinsel auf der Leinwand, sondern mit dem Cursor am Bildschirm: Sie scannt ihre Skizzen, zeichnet sie digital nach, erstellt mit Photoshop ein Bild, druckt es auf PVC und veredelt es mit Gel, Glitter oder Lack.

Damit lotet Gagliardi Grenzen und Möglichkeiten der Malerei aus und steht trotz der zeitgenössischen Arbeitsweise ganz in der Tradition einer figurativen Malerei, die Félix Vallotton und die Neue Sachlichkeit vorbereitet haben. Gleichzeitig spielt sie auf generelle Fragen an, die mit Bildproduktion, Digitalisierung, Wahrheit und Fake zu tun haben, wie sie im 21. Jahrhundert virulent sind. Mit ihren nüchtern-distanzierten, zugleich spektakulären Bildern erweitert Gagliardi den historischen Schwerpunkt der Schau und bringt sie ins Hier und Jetzt.

 

Kommentare werden geladen...

Von arttv

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst

Kommt vor in diesen Interessen

  • arttv.ch
  • Bildende Kunst

Werbung

Der Kulturpool: Highlights aus den Regionen

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

Neue Folge Kulturstammtisch - jetzt reinhören!

Wie steht es um den Kulturjournalismus? Eric Facon im Gespräch mit Rebecca C. Schnyder, Vera Zatti und Johannes Sieber.

Ähnliche Beiträge

Kunst

Ernst Kreidolf und das Licht hinter dem Dunkel

Eine neue Ausstellung im Museum Rosenegg zeigt die überraschend tiefgründige Seite des vermeintlichen «Blümli-Malers» Ernst Kreidolf – und wie er Leben, Tod und Neubeginn bildstark miteinander verwebt. mehr

Kunst

Die Wiederkehr des Immergleichen

Kunst als Geistes- und Leibesübung: Seit Jahrzehnten malt Daniel Gallmann ausschliesslich zwei Motive. Ein neues Buch eröffnet jetzt überraschende Perspektiven auf sein Werk. mehr

Kunst

Was bleibt, wenn der Mensch verschwunden ist

Künstler wird man nicht, Künstler ist man: In seiner neuen Ausstellung im Kunstverein Frauenfeld spielt Velimir Ilišević mit der Fantasie seiner Besucher:innen. mehr