von Inka Grabowsky, 26.02.2021
Raus aus dem Alltag, rein in die Trance
Die Tänzerinnen Claudia Heinle und Caroline Chevat haben im Kreuzlinger Kult-X eine neue Heimat gefunden. Im Sommer planen sie ein Projekt mit der Fusion von europäischen und ägyptischen Musik-Traditionen. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
„Ich habe gerade mein Zugangsbadge bekommen“, sagt Claudia Heinle euphorisch. Die Tänzerin und Choreografin darf den grossen Saal im Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X für sich allein als Probenraum nutzen. „Wieder in einem so grossen Raum arbeiten zu dürfen, fühlt sich an, wie nach langer Zeit endlich mal wieder das Meer zu sehen.“
Heinle hatte viele Jahre in Kreuzlingen gemeinsam mit Caroline Chevat den Tanz Raum in Kreuzlingen betrieben, bis die Liegenschaft verkauft wurde und sich das Duo 2013 mit einem Raum in Konstanz begnügen musste, der sich insbesondere zu Corona-Zeiten als zu klein erwies.
„Ich lebe seit rund 30 Jahren in Kreuzlingen. Es ist schön zuhause zu arbeiten.“
Claudia Heinle
Sie habe deshalb Kontakt zu Christine Forster vom Kult-X aufgenommen. Die beiden Frauen wurden sich schnell einig. „Ich lebe seit rund 30 Jahren in Kreuzlingen. Es ist schön zuhause zu arbeiten.“
Hier könne die Compagnie nun wieder Produktionen oder Performances zeigen oder sogar Tanzwochen organisieren. „Es ist unglaublich, was die Stadt in den vergangenen Jahren an Veranstaltungsräumen jenseits des High-End-Betriebs im Dreispitz geschaffen hat.“
In Kreuzlingen gäbe es eine Chance, zu einem vernünftigen Preis Kultur zu machen, die aus der Mittelmässigkeit heraustrete.
Die eine positive Folge der Pandemie
Die Compagnie Tanz Raum von Heinle und Chevat ist üblicherweise in fünf Ländern aktiv. Die Frauen lehrten und performten in Ägypten, Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz. Seit dem Corona-Ausbruch sei ihr Leben „zerfleddert“.
Ihre Einsätze richteten sich nach den jeweils aktuell geltenden Einschränkungen. „Jetzt, um planungsfähig zu bleiben, müssen wir an Ort und Stelle arbeiten. Das ist auch eine schöne Sache.“ Lediglich 30 Prozent des Umsatzes habe die Compagnie im vergangenen Jahr gemacht. „Ich komme immer irgendwie klar“, sagt Heinle.
Sie könne sich auf Freunde und Familie verlassen und hätte sich inzwischen auch mit der Antragsdschungel für Fördergelder auseinandergesetzt. „Die Verwaltungen bemühen sich ja redlich, aber es gibt immer Löcher im sozialen Netz, durch die einzelne Künstler hindurchfallen.“
Video: Lebenszeichen einer Tänzerin
Die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit
Mit Existenzängsten habe sie sich trotzdem nicht herumgeschlagen, und auch Angst vor dem Virus habe sie nicht. Was ihr aber richtig zu schaffen machte, war die Angst vor der Bedeutungslosigkeit, die sie gelegentlich übermannte. „Man muss mit Ängsten arbeiten und sie auflösen. Konkret: die Füsse in den Boden stemmen und sich nach oben aufrichten, damit man weit und offen bleibt. Das ist unsere Aufgabe als Künstler.“
Gerade in Krisen sei das besonders wichtig. „Ich habe die Zeit zur Reflexion genutzt: Was ist wichtig, was muss passieren, was kann ich zur Lösung beitragen?“ Erst müsse man sich im Innern klar werden, um dann nach Aussen zu wirken. „Heute wird alles Äussere oft zu wichtig genommen, das Innenleben wird vernachlässigt. Das Wachsen des Bewusstseins fehlt.“
„Heute wird alles Äussere oft zu wichtig genommen, das Innenleben wird vernachlässigt. Das Wachsen des Bewusstseins fehlt.“
Claudia Heinle
Genau hier will Claudia Heinle als Künstlerin ansetzen. Sie will zu einer Bewusstseinsänderung in der Gesellschaft beitragen. „Es steht ein Wandel in der Welt an. Das spüren wir Künstler extrem. Gerade im ägyptischen Tanz gibt es Mittel, die bei der Transformation helfen: Atemtechnikern, Bewegungsmuster, die seit Urzeiten in Ritualen eine Transformation begleiten. Man kommt in einen Trance-Zustand, in dem man Änderungen integrieren kann und erreicht an Bewusstseinsschichten, die sonst verschlossen bleiben. Das ist hier und jetzt wichtig.“
Schöne Idee: Von jedem hier gebuchten Kurs profitiert auch jemand in Ägypten
„Sobald weitere Öffnungen erlaubt werden, sind wir parat für Unterrichtsstunden“, sagt Claudia Heinle. Bis dahin behilft sich die Compagnie Tanz Raum mit Videos zur „Art of Trance“ und zur „Art of Daff“, die man als Kurs oder als Performance betrachten kann. Sie habe sowohl als Teilnehmerin als auch als Leiterin Unterricht auf Zoom erlebt, so die Tänzerin.
„Es ist schwer, wenn man die anderen Menschen nicht atmen hört und ihre Körper nicht wahrnimmt. Durch die Mattscheibe kann ich die Schülerinnen nicht auf die nächste Bewusstseinsebene bringen.“ Deshalb erscheint es Heinle/Chevat sinnvoller, den Bruch mit der alten Normalität nicht online zu überspielen, sondern den Interessenten gleich ganz die Eigenverantwortung zu übergeben.
Video-Unterricht hat auch Vorteile
„Die Betrachter unserer Filme nehmen sich dafür Zeit und konzentrieren sich anders“, ist Heinle überzeugt. „Die Schülerin ist allein und wird weder gesehen noch abgelenkt.“ Sie freut sich auf zukünftigen analogen Unterricht, räumt aber auch ein, dass die Videos Vorteile mit sich brächten. „Wir waren überrascht, wie kreativ wir beim Filmen geworden sind und welche Möglichkeiten die Technik bietet. Es bringt auch einen Zuwachs an Freiheit – nicht zuletzt, weil es ja keinen festen Stundenplan gibt.“
Etwa 30 Video-Kurs-Pakete für je 310 Euro hat die Compagnie bereits verkauft, an neue wie auch an alte Kunden. Heinle verbindet das mit einem sozialen und völkerverbindenden Projekt: Für jeden hier gebuchten Kurs, wird ein Kurs für weniger begüterte Ägypter gratis freigeschaltet.
Video: Einblick in die Online-Kurse
Im Sommer steht eine neue Produktion an
Bevor nach dem Ende des Lockdowns im Kult-X immer donnerstags Tanzunterricht angeboten werden kann, nutzt Heinle die Fläche für die Probenarbeit zu ihrem neuen Stück „Passion“. Es soll im Sommer in der Augustiner Kirche in der Konstanzer Innenstadt uraufgeführt werden.
Wie üblich wird Caroline Chevat als Perkussionistin mit ihrer Rahmentrommel mit dabei sein, dieses Mal aber ergänzt vom Flötisten Martin Stadler, der ausgewiesener Bach-Spezialist ist. „Wir bringen zwei Giganten zusammen: die europäische Musik-Tradition und die ägyptischen Rhythmus- und Tanz-Traditionen“, erzählt Heinle.
Noch wird das Stück entwickelt, insofern ist noch nicht klar, wie Okzident und Orient zusammenwirken werden. Zur Passion, dem Leiden und der Leidenschaft, können sicher beide Kulturen viel beitragen.
Von Inka Grabowsky
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