von Bettina Schnerr, 25.10.2019
In den Lücken entsteht die Fiktion
Eine ausgedehnte Reise im Heute, zahlreiche Monate auf der Flucht im 19. Jahrhundert und ein Neuanfang im Thurgau bilden den Rahmen in Johanna Liers neuem Roman „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“. Wie sich diese Zeitebenen ergänzen, erläuterte die Autorin bei der Buchvernissage im Eisenwerk Frauenfeld.
„Wie die Milch aus dem Schaf kommt“, so viel sei verraten, erzählt Johanna Lier in ihrem gleichnamigen Buch erst ganz am Ende. Bis dorthin verschlauft sie die Leben dreier Frauen miteinander, jeweils geprägt durch drei unterschiedliche Epochen. Zusätzlich webt Lier mit Osteuropa, der Schweiz und Israel drei Schauplätze in ihre Geschichte. Nimmt man es noch genauer, lassen sich ausserdem die drei Leitthemen Migration, Familiengeschichte und Industriegeschichte ausmachen.
Alles beginnt im 19. Jahrhundert mit einer Flucht: Die junge ukrainische Bauernfrau Hannah macht sich mit ihren Kindern und dem Stiefbruder auf den Weg in den Westen. Dort finden sie durch Zufall im kleinen Weiler Donzhausen bei Kradolf einen neuen Wohnsitz. Parallel begleitet das Buch in einem zeitgenössischen Erzählstrang Selma aus Zürich, die in den Habseligkeiten ihrer Grossmutter stöbert. Die teils rätselhaften Funde sorgen dafür, dass Selma die Koffer packt. Sie will in Osteuropa und Israel auf Spurensuche zu ihrer Familiengeschichte gehen.
Die grosse Lust an der bunten Mischung
Der Literaturabend gehörte zur Veranstaltungsreihe „Die Kulturstiftung stellt vor“, die -der Name verrät es- von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau getragen wird. Co-Veranstalter an diesem Abend war das Eisenwerk.
Für Moderator Gallus Frei, selbst einer der Stiftungsräte, war die Vielzahl der erzählerischen Schichten ein wichtiger Anknüpfungspunkt. So sauber die Zeitebenen voneinander getrennt sind, so fantasievoll fabuliert Johanna Lier innerhalb ihrer Erzählstränge. Eine Spur aus Liers Biografie, vermutete er. Immerhin vereint Liers berufliches Profil nicht nur Journalistin und Autorin. „Ja, da kommt auch die Dichterin in mir durch,“ meinte Lier. „Ich interessiere mich für die Verbindung von dem Dokumentarischen mit dem Poetischen. Ich vermische wahnsinnig gerne Textsorten miteinander und schaue, wie sich dabei Wirkungen verändern.“ Lier wechselt schon einmal spontan von der personalen zur Ich-Erzählung oder von der Erzählung zu Dialogpassagen oder Briefen.
Dabei steckt hinter Liers Roman eine wahre Geschichte: Johanna Liers Grossmutter ist direkte Nachfahrin einer Migrantin aus der Ukraine, die im Roman in Hannah ihre literarische Gestalt bekommt: „Über unsere Familiengeschichte sprach ich viel mit meiner Mutter. Doch ich hörte oft, dieses und jenes solle ich auf keinen Fall aufschreiben.“ Ihre ursprüngliche Idee, alles aus ihrer Ich-Perspektive heraus zu erzählen, musste sie also aufgeben. Lier wechselte zur Fiktion, entwickelte die Figur Selma als alter ego und alles, was Lier nicht erzählen durfte, konnte sie in Selma packen: „Das wiederum war für die Familie in Ordnung. In der Fiktion sind historische Begebenheiten besser zu verkraften als in einer Geschichte, die viel zu sehr Familienchronik ist.“
Reise in ein Geheimnis
Gut und gerne zehn Jahre dauerte die Arbeit an diesem Roman. Die Gespräche waren nur ein Baustein dafür. Johanna Lier durchforstete Tauf- und Sterberegister und versuchte, in Archiven mehr über die Migration und die Manufakturen zu erfahren. Doch da sei oft weniger Material vorhanden, als man vermute. Die Lücken in der Dokumentation gaben ihr die Freiheit, sie mit ihrer Fantasie zu füllen. Zugleich gab es vom Manuskript über die Jahre hinweg mehrere Fassungen. Nicht zuletzt reiste Lier selber in die Ukraine und nach Israel, um zu recherchieren.
„Dabei habe ich mich treiben lassen, um zumindest ein bisschen nachvollziehen zu können, wie das ist, wenn man sich wie Hannah ohne konkretes Ziel bewegt,“ erzählte die gebürtige Thurgauerin. „An jeder Station habe ich überlegt: Wo kenne ich jemanden? Wo könnte ich Hilfe bekommen? Wohin komme ich einfacher als an andere Orte?“ Trotz des Bewusstseins, dass heutiges Reisen eine ganz andere Erfahrung ist, habe ihr die zufällige Wahl der Route bei der Entwicklung ihrer Geschichte geholfen.
Der Thurgau und die Nudeln
Müsste man das Buch neu betiteln, könnte man mit Fug und Recht schreiben „Wie die Nudel in den Thurgau kommt“. Zwar hatte Liers Grossmutter nichts mehr mit den Nudeln zu tun, trotzdem beherrschte deren Wissen den Essenstisch. „Grossmutter legte immer fest, welche Nudeln wir essen durften,“ erzählte die Autorin. Die Ahnin kannte offenbar noch gut die grossen und kleinen Konkurrenzen, die geschäftlichen Verbindungen oder Eifersüchteleien der Thurgauer Nudelszene. „Da hiess es immer, diese Nudeln kommen hier nicht auf den Tisch, jene auch nicht, aber die hier sind gut,“ erinnert sich Lier.
Umso erstaunlicher, dass über dieses Stück Industriegeschichte fast nichts bekannt ist. Die kleinen Manufakturen produzierten zuerst für die italienischen Gastarbeiter, die für den Strassen- und Eisenbahnbau ins Land gekommen waren. „Erst, als ein Schweizer sich die Herstellung zeigen liess und eine eigene Manufaktur aufmachte, interessierten sich die Einheimischen für die Teigwaren,“ berichtete Lier. „Vorher hiess es nur ‚Diesen Teufelsfrass essen wir nicht‘. Es ist die innermigratorische Unterstützung, die die Nudeln hier gross gemacht hat.“ Ihr Roman bringt nun zumindest teilweise auch ein Stück dieser kantonalen Wirtschaftsgeschichte ins Bewusstsein.
Die Autorin & das Buch
Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.
Das Buch:
Johanna Lier: Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Verlag die Brotsuppe, Biel
503 Seiten, Hardcover, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-03867-017-9
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