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von Bettina Schnerr, 13.10.2020

Geschichten ohne Antwort

Geschichten ohne Antwort
«Erste Urteile liegen irgendwo zwischen lustig und melancholisch»: Peter Stamm über seinen neuen Roman. | © Anita Affentranger

Aus den Kurzgeschichten, die in den letzten Jahren aus Peter Stamms Feder flossen, finden sich elf im neuen Erzählband „Wenn es dunkel wird“. Man muss sich auf einige Merkwürdigkeiten einlassen können, um mit den Geschichten zurecht zu kommen.

Der Autor Peter Stamm bringt einen respekteinflössenden Palmarès mit, diverse Kulturpreise, der Solothurner Literaturpreis und nicht zuletzt der Schweizer Buchpreis aus dem vorletzten Jahr. Nach dem Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ und einer Weihnachtserzählung erschien vor Kurzem mit dem Erzählband „Wenn es dunkel wird“ das aktuellste Buch des gebürtigen Thurgauers.

Der NDR zitiert Peter Stamm so zu seiner Arbeit: "Ich werde manchmal gefragt, ob ich denn selbst überhaupt die Fragen beantworten könnte, die meine Figuren haben, und ich kann es eigentlich auch nicht. Ich habe gar nicht den Anspruch; die Frage zu stellen reicht manchmal schon. Die Antwort ist dann vielleicht eben die Geschichte." Vielleicht ist sie das. In den allermeisten Fällen jedoch nicht. Es ist ein Erzählband, der mir praktisch nichts an die Hand gibt und mich ratlos zurücklässt — mit einer Ausnahme und davon berichte ich später.

Die Realitäten verschwimmen

Die Mehrzahl der Kurzgeschichten spielt mit irrationalen, manchmal fantastischen Elementen: Da verschwinden Angestellte wortwörtlich in der Unsichbarkeit, erwachsene Männer hocken sich brav in eine Schulbank und schreiben Strafarbeiten. Junge Frauen stehen versteinert in Wohnungen, Pleitiers verbarrikadieren sich in Hotelzimmern und überhaupt verheddern sich meistens Realitäten und Traumwelten miteinander. Selbst in vergleichsweise realen Szenarien darf man damit rechnen, dass sich die Figuren merkwürdig und nicht nachvollziehbar bewegen.

Das sind grossartige Schachzüge, solange sich die Elemente als so fassbar erweisen, dass sie eine mögliche Antwort liefern können. Die mag in jedem Lesesessel anders ausfallen, durchaus. Mit manchmal kleinen Aha-Erlebnissen könnte man die Stories aufschlüsseln. „Könnte“, denn geklappt hat es meistens nicht. Nennen wir es Pointe, nennen wir es Sinn ... wenn der Schlüssel fehlt, funktioniert eine Geschichte nicht und dabei spielt es keine Rolle, ob ein Schlüssel vom Autor geliefert wird oder ob der Leser einen eigenen finden muss.

Video: Peter Stamm über Literaturpreise und Heimat

Ein Arzt auf Odyssee

Das Irrationale schlich sich eher ungeplant in die Geschichten, sagt Stamm selber. Ob wenigstens ihm die Geschichten eine Antwort gegeben haben? Zu hoffen wäre es, denn auf einer Lesung im Literaturhaus Thurgau sagte er einmal über sein Schreiben, es sei seine Art, sich Gedanken zu einem Thema zu machen, das ihn beschäftigt. Wie alles ausgehe, wisse er deshalb nicht von Beginn an. Was passiert, wenn die Geschichten dann nichts dergleichen bekommen?

Als Beispiel mag der pensioniert Arzt dienen, der sich in seinem ehemaligen Spital als Patient wiederfindet. Statt auf den Empfang des Chefarztes zu warten, läuft er einer Patientin hinterher, die er aus seinen aktiven Jahren wiedererkennt. Eine hypochondrische Frau, die bereits mehrfach jede Abteilung beschäftigt hat und wahrscheinlich immer noch Behandlungen einfordert. Peter Stamm lässt den Arzt sich an seine besondere Patientin erinnern, findet es aber notwendig, ihn dabei auf eine lange Reise durch die Spitalflure zu schicken. Immer der Frau hinterher, die nichts anderes tun wird, als ruhelos von einer Abteilung in eine andere zu laufen. Welcher Gedanke hier wohl noch zu Ende gedacht werden könnte, als die Frau das Spital kurzerhand verlässt?

Ein Fundstück für jeden

Unter elf Geschichten findet sich „eine“ dann doch noch. Ein Phänomen, das mir bereits bei Benedict Wells begegnet ist. In seinem Fall war es die Titelgeschichte aus „Die Wahrheit über das Lügen“. Nur wegen dieser Story über eine alternative und raffinierte Entstehungsgeschichte der Star Wars-Welt, und wirklich nur wegen dieser einen, steht das Buch heute noch bei mir im Schrank.

Bei Peter Stamm liefert einen zumindest leicht ähnlichen Effekt die Geschichte um ein fremdes Knie, das auf irgendeiner Tagung dem Knie von Adrians Frau Sabine begegnete. Adrian stellt nun fest, dass sich Sabine und dieser fremde Kniebesitzer deswegen mailen. Die Geschichte erzählt davon, wie Adrian mit dieser nicht sonderlich erfreulichen Erkenntnis umgeht. Mit irrationalen Ideen hält Stamm sich hier nicht auf. Er lässt Adrian sogar einen Roman entwerfen: „Eines Abends erzählte er Sabine die Geschichte, die er sich ausgedacht hatte. Sie schaute ihn an mit ironischem Blick und sagte, das Buch habe Philip Roth vor fünfzig Jahren geschrieben.“

Mit dem Buch in der Hand lässt man sich wiederum die Geschichte von Adrian erzählen, die Peter Stamm sich ausgedacht hat. Am Ende dann der ironische Blick auf’s Buch: Nanu, die Pointe hat doch Rupert Holmes vor 41 Jahren entworfen. Ganz gut in diesem Fall, dass Stamm mit seinem Manuskripten auf diese Feststellung hin ganz anders umging: „Am nächsten Tag warf Adrian die ganzen Notizen und Pläne in den Müll.“

DAS BUCH: Peter Stamm – Wenn es dunkel wird; ISBN 978-3-10-002226-4, 190 Seiten, gebunden, S. Fischer Verlag Frankfurt, 2020. Weiterlesen: „Das offene Buch“: BR-Literaturredakteurin Cornelia Zetzsche im Gespräch mit Peter Stamm, Lesungen von Sibylle Canonica

Video: Peter Stamm liest aus „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“

Video: Agnes to go (Peter Stamm in unter 10 Minuten) aus der Serie „Sommers Weltliteratur to go“

  

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