von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 04.10.2024
Die Zukunft bleibt fern
Zum 30. Geburtstag veranstaltete das Ostschweizer Magazin „Saiten“ einen Kongress zum Kulturjournalismus der Zukunft. Gute Idee eigentlich. Aber wie der aussehen könnte, verriet die Tagung leider nicht. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Fast könnte man sagen: Mindestens genauso lange wie es so etwas wie Kulturjournalismus gibt, gibt es Klagen über dessen Zustand. Zu wenig Geld, zu wenig Platz, zu wenig Relevanz. Die Probleme des Kulturjournalismus sind in den vergangenen Jahrzehnten rauf und runter diskutiert worden. Es folgten zaghafte Versuche am Ist-Zustand etwas zu ändern, aber wenn man sich den Debattenverlauf von heute und jenem, von sagen wir vor 25 Jahren, anschaut, dann muss man feststellen: So sehr viel hat sich offenbar nicht geändert.
Ein möglicher Grund dafür: Das Publikum spielte sehr oft keine Rolle in diesen Überlegungen. Die Menschen, an die sich das Produkt Kulturjournalismus wendet, wurden eher nicht gefragt, wie sie sich dieses Produkt denn wünschen würden.
Stattdessen wurden Verlags- und Medienmanager quotenhörig und glaubten, sie könnten die Beurteilung von Qualität des Kulturjournalismus einerseits und Leser:innenwünsche andererseits allein anhand von Klickzahlen abhaken. Die fatale Konsequenz: Kulturressorts wurden abgebaut statt sie in der Krise zu stärken.
Die Abwesenheit des Publikums
In dieser Gemengelage war es also erstmal eine gute Idee des Ostschweizer Magazins „Saiten“ zu seinem Kongress zur Zukunft des Kulturjournalismus explizit auch Leser und Leserinnen einzuladen. In einem Workshop sollten sie gemeinsam mit Veranstalter:innen ihre Erwartungen an den Kulturjournalismus formulieren. Allein: Zum Workshop kam exakt eine (!) Leserin, die anderen Teilnehmer:innen waren Veranstalter:innen, Kulturjournalist:innen und Vertreter:innen von Kulturförderinstitutionen. Die Hoffnung auf einen neuen, von Leser:innen-Seite gedachten Kulturjournalismus platzte also schnell.
Ein Teil des Problems war sicher, dass die Veranstalter den Workshop zeitgleich mit einem Fachgespräch von Medienschaffenden unter dem Titel „Alltag im Kulturjournalismus“ angesetzt hatten. Der eigentlich angedachte und sehr notwendige Austausch zwischen Kulturjournalist:innen und Kulturjournalismus-Publikum wurde so erschwert.
Die weitgehende Absenz von Leser:innen, die nicht auch irgendwie Kulturschaffende sind, offenbarte zudem ein weiteres Problem des Kulturjournalismus: Offenbar hat er es sich in seiner Bubble zu gemütlich gemacht. Wollte man es positiver formulieren könnte man natürlich auch sagen, dass die meisten Kulturjournalismus-Konsument:innen zufrieden sind mit dem, was sie lesen, sehen und hören und gar keine Notwendigkeit für einen Gesprächs- und Änderungsbedarf sehen und deshalb fernblieben. Aber ist das realistisch angesichts des allgegenwärtigen Krisengeraunes?
Wünsche: Mehr Transparenz, mehr Multimedialität, mehr Perspektiven
Die Ergebnisse des von Thomas Weber geleiteten Workshops blieben angesichts der publikumsfreien Besetzung auch erwartbar: Mehr Debatte statt klassischer Besprechungen lautete ein Wunsch. Mehr junge Autor:innen schreiben lassen und „junge Kultur“ zu fördern ein anderer. Eine konkrete Idee dafür lautete: einen Preis für beste Maturaarbeiten im Kulturbereich zu schaffen und diese auch im Kulturjournalismus abzubilden. Das Ziel: Mehr Sichtbarkeit für junge Kulturschaffende und neuer Nachwuchs für den Kulturjournalismus.
Weitere Wünsche klangen so: Mehr Videos und Podcast, mehr Transparenz in Bezug auf die Auswahlentscheidungen von Kulturjournalist:innen und mehr Multiperspektivität in der Berichterstattung. Letzteres beispielsweise in Form von zwei verschiedenen Besprechungen zu einer Aufführung. Die Hoffnung dabei: Unterschiedliche Perspektiven könnten den Diskurs über Kulturprodukte stärken. Gerne hätte man gewusst, was das „echte“ Publikum dazu gesagt hätte.
Interessantes Podium, aber wenig Neues
Diese Leerstelle zog sich auch durch das weitere Programm der Konferenz. Zum Abschluss diskutierten zwei Politikerinnen, ein Kulturschaffender, ein Kulturjournalist und eine Kulturamtsleiterin über die Zukunft des Kulturjournalismus. Mit Min Li Marti (Nationalrätin und Verband Medien mit Zukunft), Laura Bucher (Regierungsrätin und Kulturministerin Kanton St. Gallen), Guy Krneta (Schriftsteller, Vorstand ch-interculture), Lisa Fuchs (Leiterin Fachstelle Kultur Kanton Zürich), Frank Heer (NZZ-Kulturredaktor) und Moderator Eric Facon war das Podium interessant besetzt, aber angesichts der Probleme der Gegenwart fand die Zukunft keinen Platz.
Es ging um den Zustand des Kulturjournalismus (Frank Heer: „Nicht so schlecht, wie oft behauptet wird.“, Min Li Marti: „Schlechter als vor einigen Jahren.“), die Bedeutung des Genres (Laura Bucher: „Wieso ist Kulturberichterstattung überhaupt wichtig? Gibt es diesen Wunsch auch jenseits der Bubble?“) und die Rolle von Kulturjournalismus in der Gesellschaft (Guy Krneta: „Kunst und Kultur bieten Anlässe für Debatte und Diskurs, der Kulturjournalismus spiegelt das zurück in eine breitere Öffentlichkeit.“).
Es zeigte sich auch schnell, dass es selbst auf dem Podium unterschiedliche Vorstellungen von diesem Ding namens Kulturjournalismus gab. Demnach soll Kulturjournalismus unter anderem erklären, was überhaupt stattfindet (Guy Krneta), er soll auch vermitteln (Lisa Fuchs), mehr Nach- statt Vorberichterstattung liefern, um den Diskurs über Kunst zu befördern (Guy Krneta) und gleichzeitig ist allen klar, dass er er nicht alles auffangen, nicht jede kulturelle Aufführung berücksichtigenkönne (Frank Heer). Natürlich steuerte das Gespräch irgendwann auf die alles entscheidende Frage zu: Wie finanziert man ambitionierten Kulturjournalismus, wenn sich klassische Verlage immer stärker daraus zurückziehen?
Ein Ausweg: Mehr Grundförderung für Journalismus
„Wir müssen raus aus der Projektförderung, rein in eine kontinuierliche Grundförderung von Journalismus“, fand beispielsweise Nationalrätin Min Li Marti. Nur so könne man sicherstellen, dass Kulturjournalismus sich auf das Wesentliche konzentrieren könne und sich nicht ständig neue Zusatzprojekte ausdenken müsse, um Gelder von Stiftungen zu bekommen. Lisa Fuchs verwies darauf, dass sie in Zürich daran arbeiteten eine Plattform nach dem Vorbild von thurgaukultur.ch aufzubauen. Der Plan: Kanton, Städte und Gemeinden sollen das gemeinsam finanzieren.
Der Schriftsteller Guy Krneta brachte ein ganz neues Modell ins Spiel. Im Grunde müsste der Kulturjournalismus schon bei der Kulturförderung mitgedacht werden, so Krneta: „An jede 100’000 Franken, die an Kulturprojekte gehen, müssten weitere 100’000 Franken für Kulturjournalismus gekoppelt sein. Beide Seiten wären gleich gut ausgestattet und die Chance auf eine unabhängige und kritische Berichterstattung wäre gewahrt.“
Die von Moderator Eric Facon darauf gestellte Frage, ob das nicht einen Verteilkampf zwischen Kulturjournalismus und Kulturschaffenden herauf beschwöre, antwortete Min Li Marti, Ziel müsse es sein, „den Förderkuchen insgesamt grösser zu machen, damit alle angemessen davon profitieren können.“ Wie genau das gehen soll angesichts überall angespannter Haushaltslagen, sagte sie aber nicht.
Zukunft? Welche Zukunft?
Diese allesamt doch eher theoretischen Debatte wurden einer Zuhörerin irgendwann zu viel: „Eigentlich sollte es doch hier um die Zukunft des Kulturjournalismus gehen, davon habe ich bislang aber nichts gehört“, kritisierte sie das Podium. Worauf Lisa Fuchs entgegnete, eine Zukunft gebe es ebne nur, wenn es eine politische Lösung gebe. Deshalb müsse man auch darüber reden.
Am Ende hatten beide irgendwie Recht. Die Politik spielt eine (zu?) gewichtige Rolle in der Debatte, gleichzeitig blieb die Zukunft des Genres Kulturjournalismus dieser Diskussion seltsam fern. Vor allem inhaltlich. Denn das ist ja die grosse Frage: Wie sollte sich der Kulturjournalismus aufstellen, um auch ein Publikum jenseits der üblichen Bubble zu erreichen?
Dazu lieferten die Podiumsgäste keine Antworten. Vielleicht wäre es an dieser Stelle eine gute Idee gewesen, auch jemanden einzuladen, der Kulturjournalismus anders versteht als bisherige Player wie ein NZZ-Redaktor. Auf TikTok, Instagram oder YouTube gibt es zahlreiche Menschen, die Kulturinhalte heute anders vermitteln als dies üblicherweise in den klassischen Kulturteilen und Feuilletons passiert. Man muss das nicht alles gut finden, aber es wäre in einer Debatte über die Zukunft des Kulturjournalismus doch interessant gewesen zu hören, wie es ihnen gelingt ein grösseres Publikum zu erreichen.
Was der Diskussion fehlte
Interessant wäre auch gewesen, jemanden von einem Community-starken Medium wie Tsüri zu hören und nach den Erfahrungen im Bereich Teilhabe, Dialog und Partizipation zu fragen. Auch das könnte ja ein Zukunftsweg für neuen Kulturjournalismus sein. Und ja, natürlich wäre es schön gewesen, auch jemand Jüngeres auf dem Podium sitzen zu haben, der oder die über den eigenen Medienkonsum und die Bedeutung von Kulturjournalismus hätte sprechen können.
Trotz dieser Mängel war der Saiten-Kongress weder vergebens noch gescheitert. Allein schon deshalb, weil es immer gut ist im Gespräch zu bleiben und im Alltagswahnsinn mal inne zu halten und zu überlegen, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist oder ob man alles auch ganz anders machen könnte. Zur Erinnerung: Es war der allererste Kongress zum Kulturjournalismus in der Ostschweiz. Allein für die Initiative und die Umsetzung muss man Saiten dankbar sein. Und der Rest kann dann bei (hoffentlich) weiteren Ausgaben verfeinert werden.
Fünf Dinge, die Kulturjournalist:innen sofort ändern können (aus dem Text "Wie sich der Kulturjournalismus selbst abschafft" von Michael Lüntroth, erschienen am 19.August 2024 auf thurgaukultur.ch)
Neben strukturellen Neuerungen ist aber auch eine inhaltliche Neuorientierung im Kulturjournalismus zwingend. Notwendig dafür sind zum Beispiel:
1. Mehr Offenheit für neue Formate: Der Kulturjournalismus des 21. Jahrhunderts schafft verschiedene Zugänge zu seinen Themen. Er erzählt multimedial und divers und passt sich so den neuen Nutzungsgewohnheiten des Publikums an, ohne dabei an Tiefe zu verlieren.
2. Mehr Mut: Kulturjournalismus sollte viel häufiger das Instrument der Recherche verwenden, um Zusammenhänge und Kontexte zu erklären. Dazu gehört auch, sich nicht als Teil der Kulturbubble zu verstehen, sondern als konstruktiv-kritischer Begleiter.
3. Mehr Transparenz: Wir Kulturjournalist:innen müssen viel besser erklären, wie wir arbeiten und nach welchen Kriterien wir beispielsweise Rezensionen verfassen. Es geht darum, unser journalistische Selbstverständnis offenzulegen. Das schafft Nähe und Vertrauen. Ein öffentlich einsehbares Redaktionsstatut kann ein Mittel sein, dies zu erreichen.
4. Mehr Dialog, weniger Selbstgewissheit: Die Vorstellung vom über allem thronenden Kritiker:in ist längst überkommen. Wer Kritik übt, muss auch selbst Kritik ertragen können. Deshalb sind Formate gut, die zeigen, das wir uns durchaus auch selbst hinterfragen. Wir haben beispielsweise bei thurgaukultur.ch mit dem innovativen Format der Gegenkritik experimentiert. Hier erhalten Kulturschaffende Gelegenheit auf Rezensionen zu antworten.
5. Mehr Expertise: Vielleicht das Wichtigste - es braucht wieder mehr Kulturjournalist:innen, die wissen, worüber sie schreiben. Der Abbau der Kulturredaktionen hat zu einem massiven Wissensverlust geführt. Das kann man nur stoppen, in dem man Kulturjournalist:innen regelmässig schult. Auch darin, wie man komplizierte Zusammenhänge verständlich erklärt, ohne sie zu plump zu vereinfachen. Es geht auch darum, ein neues Berufsbild zu schaffen: Weg vom Welterklärer, hin zum konstruktiv-kritischen Kulturvermittler.
Weiterlesen: Den ganzen Text gibt es hier.
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