von Barbara Brauckmann, 25.09.2024
Die Tricks der Mönche
«Facetten des Mittelalters» (2); Nicht immer wurde mit Waffen um Privilegien gekämpft. Oft lagen zunächst gefälschte Urkunden auf dem Tisch. Ein Blick in die Fälscherwerkstätten des Klosters Reichenau. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Statistisch gesehen hält die historische Forschung derzeit fast 50 Prozent von den erhaltenen Urkundentexten des Frühmittelalters für eine Fälschung. Das gilt auch für die der Reichenauer Abtei. Denn als deren Immunität zunehmend von der adeligen Herrschaftsgewalt bedroht wurde, sollten frühere kaiserliche Urkunden eine Bindung der Vögte an die Weisung des Abts bezeugen und ursprüngliche Lehensgüter sicherstellen. Waren keine solche vorhanden, wurde eine passende Version «hergestellt» und darin Privilegien nachgebessert.
Nicht nur frommes Handeln in klösterlichen Schreibwerkstätten
Eine Bindung der Reichenau an das fränkisch-deutsche Königtum im 8. Jahrhundert geht auf die Unterstützung durch den fränkischen Hausmeier Karl Martell zurück. So wurde das Kloster bei seiner Gründung schon bald mit Dörfern ausgestattet und ihm Immunität, Zollfreiheit, Zehntrechte und die freie Abtwahl zugesichert. Die während des früheren Mittelalters noch «königsunmittelbare» Abtei verlor jedoch in den folgenden Jahrhunderten zunehmend an wirtschaftlicher und politischer Macht. Dieser Zustand sollte mit «günstigen» Reichenauer Herrscherurkunden verhindert werden.
«Schon bei der angeblich ältesten Pergamenturkunde von 724 handelt es sich um eine Fälschung», erklärt Dr. Harald Derschka, ausserplanmässiger Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Konstanz.
Zu einem der Ziele solcher Erlasse gehörte beispielsweise, dass der Reichenauer Abt an keinem Heerzug des Königs teilnehmen müsse, ausgenommen am Krönungszug nach Rom. Denn grundsätzlich galten die «Fahrten über Berg» (expeditio romana - über die Alpen), als die am langwierigsten und kostspieligsten. Und ausserdem sei er nicht verpflichtet, den König und sein Gefolge zu verpflegen.
Denn sooft der König die Reichenau oder einen Reichenauer Güterort besuchte, hatte die Abtei den Hofstaat zu versorgen. Brach der König zu einem Feldzug auf, brauchte er berittene Krieger und für den Zug Ottos II. von 981 nach Rom waren das 60 Panzerreiter. Rechnerisch bedeutete dies, dass mindestens zehn Bauernhöfe für die Grundversorgung eines berittenen Kriegers aufkommen mussten, insgesamt dann 600 Höfe.
Klösterlicher Fälscher aus Leidenschaft
«Den Urheber der dritten und letzten Serie Reichenauer Urkundenfälschungen kennen wir sogar mit Namen, es ist der zwischen 1142 und 1166 nachgewiesene Kustos Udalrich aus der edelfreien Familie von Dapfen. Von seiner Hand stammt ein Dutzend vorgeblicher Herrscherurkunden, in denen stärker als zuvor die Verhältnisse der Klosterleute geregelt sind, um den Lebensunterhalt der Mönche und den ungestörten Gottesdienst sicherzustellen», berichtet der Historiker.
«Er fälschte die «Gründungsurkunde» des Klosters, beliess aber Bruchstücke echter Schutzurkunden darin und «gestaltete» ein Dutzend Herrscherurkunden, in denen stärker als zuvor die Verhältnisse der Klosterleute geregelt sind, um den Lebensunterhalt der Mönche und den ungestörten Gottesdienst sicherzustellen.»
In der neuen Serie «Facetten des Mittelalters» wollen wir euch bis zum Jahresende etwa einmal im Monat einen Artikel über wichtige Meilensteine des Mittelalters mit Bezug zur Gegenwart anbieten. Die Texte sollen unterhaltsam sein und Wissenswertes über Klostermedizin, Gärten, Buchwerke, Rechtsprechung, Zünfte, Wein und Rezepturen vermitteln. Dabei machen wir an ganz verschiedenen Orten rund um den Bodensee und in der Ostschweiz Station. Alle Texte der Serie bündeln wir im zugehörigen Dossier.
Bei einigen der Urkunden wurde der neue Text doppelt so lang, je einer Textzeile entsprechen zwei Zeilen der Fälschung. Oder das eigentlich starke Pergament ist wegen der tiefen Rasur an mehreren Stellen durchgerissen. Manchmal wurden auch vorherige Fälschungen nochmals überschrieben und dann Beglaubigungszeichen und das königliche Siegel belassen.
Die Fälschungen sind meist gut nachweisbar, denn für Echtheitsnachweise werden u. a. das Format des Pergaments, Schriftspiegel und Bildaufbau, Anbringungsart des Siegels, Tinte und Schrift und natürlich auch Textinhalte und Datierung im historischen Zusammenhang untersucht. Ebenfalls werden die als Urkundenzeugen genannten hochrangigen Personen in hochmittelalterlichen Urkunden auf Stimmigkeit überprüft.
Die Reichenauer fälschten auch in fremdem Auftrag
«Die grosse Zahl von Auftraggebern und Mitwissern beweist, dass das Fälschen von Abt und Konvent zumindest geduldet, vermutlich sogar gefördert wurde. Man kann von einer regelrechten Fälscherwerkstatt sprechen, die nicht nur die Abtei selbst bediente, sondern auch eine Reihe weiterer geistlicher Einrichtungen wie die Benediktinerabteien Kempten, Ottobeuren, Schuttern und Ebersheim, die Damenstifte Lindau und Buchau sowie das Domkapitel von Strassburg. Es ist allerdings nicht bekannt, dass sich ein Reichenauer Fälscher je für sein Delikt hätte verantworten müssen», meint Derschka.
«Notfalls hätten sie wohl vorbringen können, zwar den Buchstaben der Immunitätsverleihung manipuliert, aber ihren Geist gewahrt zu haben. Man hätte schliesslich nicht offensiv in die Rechte Dritter eingreifen, sondern mit alten Texten aus der Zeit der der Klostergründer lediglich den eigenen Bestand schützen wollen. Immerhin kennt man die Geschichte von Mönch Guernon von Saint Médard, der auf dem Sterbebett die Fälschung von Papstprivilegien für die Abteien von Saint-Ouen und Canterbury bereute.»
Später drohte die Todesstrafe
Doch völlig straffrei blieben derartige Fälschungen auf Dauer ohnehin nicht. Kirchenrechtlich wurde das Fälschungsdelikt von Papst Innozenz III. (1160—1216) unter die schweren Verbrechen eingeordnet, welches für Kleriker Exkommunikation und Auslieferung an das weltliche Gericht bedeutete. In Deutschland wurden es mit Handabhacken geahndet und später unter Einfluss des römischen Rechts mit Enthaupten, Sieden oder Verbrennen.
Weitere Beiträge von Barbara Brauckmann
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