von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 19.07.2023
Aktivistin für Malerei
Rachel Lumsden zeigt in ihrer neuen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau, dass Malerei schön und tiefsinnig zugleich sein kann. Doppelbödigkeit kann die gebürtige Britin gut: Auch ihr zeitgleich erschienenes „Manifest für Malerei“ ist klug und ungemein unterhaltsam. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
Nur mal angenommen, es wäre ein Ziel der neuen Rachel-Lumsden-Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau gewesen, zu beweisen, dass man Malerei nur in der direkten Begegnung erfassen kann, dann liesse sich schon nach wenigen Metern in den Ausstellungsräumen im kühlen Keller der Kartause ein Häkchen dahinter machen: Mission erfüllt. Nicht besonders subtil, aber ziemlich klug auf einen frühen Höhepunkt im Rundgang hin kuratiert und extrem packend.
Aber der Reihe nach: Man kommt also als Besucher:in in den unterirdischen Saal und betrachtet zunächst einige kleinformatige Werke der gebürtigen Britin, die seit 2016 auch einen Schweizer Pass hat und längst eine der spannendsten Künstlerinnen im Land ist. Die Arbeiten zeigen in dieser Reihenfolge: Ein Militärfahrzeug, das einen Panzer transportiert, zwei Unterbeine in Donald-Trump-Socken und Batman und Robin, wobei Batman eher kopflos daher kommt. Krieg, Politik, Popkultur, ein Dreiklang von Lumsdens inhaltlichen Interessen wäre auf den ersten Metern also schon ziemlich gut umrissen.
Vom Bilder sammeln und Bilder malen
Wobei: Die Künstlerin besteht darauf, dass sie ihre Bilder nicht über die Themen findet. Sondern über die Farben. „Ich wähle den visuellen Inhalt meiner Bilder weniger aus strategischen Gründen, sondern weil er in mir Resonanz erzeugt“, sagt sie beim Rundgang in Ittingen. Aber sie sagt auch, dass sie eine grosse Bildersammlerin sei: Aus Büchern, Zeitungen, Magazinen. „Ich lebe in dieser Zeit. Natürlich bin ich geprägt von medialen Ereignissen. Ich möchte mich mit dem beschäftigen, was hier und jetzt passiert“, erklärt die 54-Jährige ihren Arbeitsprozess.
Während man noch sehr angeregt mit der Künstlerin über das Zeitgeschehen diskutiert, schleicht sich von hinten schon ein sattes Violett über Hinterkopf, Ohren bis ins Gesicht nach vorne in die Augenwinkel. Ein dunkles, unheilvolles Violett, dessen Kraft den Betrachter auf eine so archaische Art packt, dass man nicht ausweichen kann. Es ist schlicht unmöglich, sich in diesem Moment nicht umzudrehen. Und da hängt er. Der Beweis, das Malerei auch im 21. Jahrhundert ihre ganz eigene Kraft hat, die man nur im Hier und Jetzt spüren kann und keinesfalls über einen digitalen Bildschirm vermittelt begreifen kann.
Was für ein wuchtiges Werk!
2,30 Meter hoch, 1,90 Meter breit. „Landslide“ heisst das Werk aus dem Jahr 2020. Auf einem Meer aus gelb, orange und hellem rot fährt ein Kreuzfahrtschiff vor einem schwarz, dunkelrot, violetten Horizont vorbei. Man hat nicht das Gefühl, dass diese Reise für die Passagier:innen gut ausgehen wird. Aber das ist es nicht allein, was einen packt an dem Werk. Es sind vielmehr die schiere Grösse sowie die Vielschichtigkeit der Farben, die diesen unentrinnbaren Sog gemeinsam entwickeln.
„Malen ist mein Zugang zum Leben der Sinne. Meine Möglichkeit, mich als Erwachsene immer und immer wieder mit Welten zu verbinden, mit dem Vergangenen, mit dem Gegenwärtigen und dem noch nicht oder niemals Geformten“, schreibt Rachel Lumsden in ihrem „Manifest für die Malerei“, das zeitgleich mit der Ausstellung erschienen ist. Genau diese Sinnlichkeit ist in all ihren Arbeiten zu spüren.
„Ich habe den Mut aufzubringen, mich auf die leiseste Ahnung einzulassen, und gleichzeitig den Verdacht zu hegen, dass das, was immer mein Interesse weckt, eine - tschuldigung - Scheissidee sein könnte.“
Rachel Lumsden, Malerin
Was sie konkret an einer Arbeit interessiere, zeige sich oft erst im Prozess: „Das ergibt sich mit der künstlerischen Arbeit. Es ist am Anfang nur eine Ahnung, dass diese oder jene Forschungslinie zu einer bildnerischen Goldader führen wird“, erläutert Lumsden.
Im Atelier stosse sie dabei oft auf ein Dilemma: „Ich habe den Mut aufzubringen, mich auf die leiseste Ahnung einzulassen, und gleichzeitig den Verdacht zu hegen, dass das, was immer mein Interesse weckt, eine - tschuldigung - Scheissidee sein könnte.“ Meistens gelinge es ihr aber das Nörgeln des Verstandes erstmal auszublenden.
Wer die Künstlerin mal in ihrem Atelier in Arbon besucht hat, der kann erleben, wie das in der Praxis aussieht: Lumsden malt, korrigiert, übermalt, fängt hier an, hält inne, dann geht es an einer anderen Stelle weiter. Sie lässt sich treiben in diesem Prozess. Das Bild ist fertig, wenn es fertig ist. Das beeindruckendste am ganzen Prozess sei, wenn plötzlich „das Bild vor dir steht, wie eine eigenständige Persönlichkeit“, sagt Lumsden.
Ohne Tritte vors Schienbein geht’s nicht
Man kann in ihrer neuen Ausstellung mehreren dieser Persönlichkeiten begegnen. Einer Ölbohrplattform in Küstennähe, dem Riesentanker „Evergreen“, der tagelang den Suezkanal blockierte oder auch eine Ansammlung von Panzern in einer städtischen Kulisse. Einerseits. Und dem gegenüber hängen Bilder von Vögeln in Bäumen. Schöne Bilder. Darf man das, wenn man als Künstlerin ernst genommen werden will? Einfach schöne Dinge malen?
Ein Thema, das Rachel Lumsden sehr beschäftigt. „Wenn jemand sagt, ich kann das nicht machen, dann mache ich es extragross“, sagt sie mit einem Grinsen im Gesicht. Um dann in ihrer Muttersprache anzufügen: „You always have to give it a good kick in the shins!“
Dass sie mal Künstlerin werden würde, hat Rachel Lumsden selbst lange nicht für möglich gehalten: „Ich habe als Kind gerne gemalt, wie halt Kinder gerne malen. Aber ich hatte damals nie das Ziel, Künstlerin zu werden. Kunst - das schien mir wie etwas aus einer vergangenen Epoche zu sein“, blickt Lumsden zurück.
Francis Bacon wurde ihr Erweckungserlebnis
Das ändert sich erst, als sie eine engagierte Kunstlehrerin bekommt und diese Begegnungen mit zeitgenössischen Künstlern wie Carl Robinson organisiert. „Das war eine Erweckung für mich. Erst da wurde mir klar: Auch heute kann man den Beruf Künstler wählen.“
Als sie dann im Alter von 17 Jahren eine Ausstellung in der Tate Britain mit Arbeiten von Francis Bacon sieht, wird ihr Weg immer klarer: „Das war eine visuelle Erschütterung“, sagt sie heute. Nach dem Bachelor Fine Arts an der Trent University of Nottingham schliesst sie 1998 mit dem Postgraduate Master in Malerei der Royal Academy of Arts School in London ihre Ausbildung ab. Seither folgten zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen in der Schweiz, aber auch in Paris und London. Mehrere Auszeichnungen schmücken inzwischen ihre Vita, ja, Rachel Lumsden ist das, was man heute eine anerkannte Künstlerin nennt.
Schiffe, immer wieder Schiffe
Ihre Herkunft aus dem nordenglischen Newcastle-upon-Tyne, fast 500 Kilometer und fünfeinhalb Autostunden von London entfernt, sieht man ihren Arbeiten heute noch an. „Es gab Werften und über den Reihenhäusern ragten Supertanker auf. Natürlich hat mich das geprägt“, sagt die Künstlerin. Motive rund um Schifffahrt und Meer spielen eine Rolle in ihrem Werk. Aber eben nicht nur. Lumsdens Werk ist vielfältig. Leidenschaftlich, berührend und inspirierend zudem.
In einer früheren Besprechung ihrer Arbeit habe ich mal geschrieben, dass ihre Werke keine Überfallkommandos seien, die einen sofort einnehmen. Aber eigentlich stimmt das nicht. Oder nicht mehr. Entweder hat sich die Arbeit der Künstlerin verändert oder mein Blick auf sie. Die neueren Arbeiten haben jedenfalls ziemlich direkten Zugriff auf meine Emotionen. Das verleiht ihrem Werk eine noch grössere Dringlichkeit.
So unterhaltsam hat schon lange niemand mehr den Kunstbetrieb auseinander genommen
Wie sie wurde, was sie heute ist und wie steinig der Weg manchmal war, auch darüber schreibt sie in ihrem Buch „Ritt auf der Wildsau. Manifest für die Malerei“. Auf fast 200 Seiten nimmt sie darin auf eine sehr kluge und unterhaltsame Weise den Kunstbetrieb auseinander.
Sie notiert seltsame Begegnungen mit Galeristen, wie sie als Malerin vor allem in der Schweiz stets unterschätzt wurde und wie eng die Männerbünde in der Branche noch immer sind: „Es existiert von Beginn an ein subkutanes Zweiklassensystem, das der Kunstschwester nur dann Platz gewährt, wenn der eine oder andere Kunstbruder plötzlich dazu gezwungen word, das Ganze von aussen zu betrachten.“
Sie appelliert auch an Institutionen und Kunst-Expert:innen, sich mehr Mühe zu geben und stärker nach den spannenden Künstlerinnen zu suchen, um ihnen den Platz zu geben, der ihnen gebührt.
Keine Frauenzirkel schaffen, sie will am Tisch mit den Männern sitzen
„Künstlerinnen wollen sich nicht in exklusiven Frauenklubs absondern, sie ziehen es vor, im Gesamtkontext gezeigt zu werden, und fürchten den Vergleich mit den Kunstbrüdern nicht - im Gegenteil. Es geht nicht um temporäre Freiflächen, es geht darum, dass ihr rüber rutscht, wir wollen bei und mit euch sitzen, es gibt schliesslich genug Platz“, schreibt Lumsden. Ihre Lehre aus all ihrem ganz persönlichen Werdegang: „Kein Mensch wird sich für deine Arbeit eintreten, wenn du es nicht selbst tust!“
Die Idee zu dem Buch entstand während der Pandemie. „Als alle Ausstellungen abgesagt wurden, ist mein Motor wie erlahmt. Der klassische Antrieb im Kunstbetrieb war von einem auf den anderen Tag ausgefallen. Ich habe versucht, trotzdem zu malen, aber das ging nicht gut“, blickt Lumsden zurück. Was ihr besonders zu schaffen machte: „Wenn die Bilder nicht mehr von Betrachter:innen gesehen werden können, dann sterben sie.“
„Wenn die Bilder nicht mehr von Betrachter:innen gesehen werden können, dann sterben sie.“
Rachel Lumsden, Künstlerin
Das Schreiben wurde für die Malerin zur Zweitsprache, um den Dialog mit sich selbst und einem imaginären Publikum aufrechtzuerhalten. Dass daraus nun tatsächlich ein Buch wurde, das von einem Verlag herausgegeben wurde, wundert sie manchmal immer noch. Aber genau das habe sie gebraucht, um die Pandemie seelisch zu überstehen.
Rachel Lumsden wollte aber mehr. Sie wollte auch eine Lanze für die Malerei brechen. Weil die aus ihrer Sicht als Kunst, besonders in der Schweiz, viel zu lange gering geschätzt worden sei. Wenn man so will ist Rachel Lumsden also auch eine Malerei-Aktivistin. Oder treffender gesagt: Eine Aktivistin für die Malerei.
„Manchmal denke ich auch: What the fuck am I doing mit diesen grossformatigen Bildern?“
Rachel Lumsden, Künstlerin
In der Ausstellung im Kunstmuseum stehen nun also Text und Bild nebeneinander. An einigen Wänden gibt es Auszüge aus dem Buch. Es gibt einen separaten Bereich, in dem man sich von der Künstlerin selbst (englisch) oder einer Sprecherin (deutsch) aus dem Manifest für die Malerei vorlesen lassen kann. Hört man zu oder liest selbst, merkt man schnell: Text und visuelle Kunst verstärken sich gegenseitig. Das, was Rachel Lumsden in der Theorie von Kunst und Malerei in ihrem Buch fordert, löst sie in der Ausstellung ein. Viel überzeugender kann man ein Manifest kaum vortragen.
Der Rundgang mit der Künstlerin endet vor dem grossen Werk mit dem Frachter Evergreen. Rachel Lumsden schaut es an und sagt: „Manchmal denke ich auch: What the fuck am I doing mit diesen grossformatigen Bildern?“ Sie lacht. Und da schwingt schon auch ein bisschen stolz mit, dass sie es trotzdem geschafft hat anzukommen - in einem einstmals fremden Land und im Kunstbetrieb.
Was Malerei zeitgenössisch macht
Schliesslich also nochmal die Frage: Kann figurative Malerei wirklich zeitgenössisch sein? Rachel Lumsden lächelt. Sie hat die Antwort schnell parat. Sie hat schon in ihrem Manifest darüber geschrieben: „Wir leben auf einem Planeten, auf dem nicht nur 60 Prozent der Wirbeltiere, sondern auch die Hälfte der weltweiten Baumarten ums Überleben kämpfen. Ja, ich erkühne mich zur Vermutung, dass deshalb ein Baum mit Vögeln durchaus zeitgenössisch und die figurative Malerei wichtig ist.“
Die Ausstellung, das Buch & das Rahmenprogramm
Die Ausstellung „The blazing hot moment und andere Funkensprünge“ ist bis 17. Dezember im Kunstmuseum Thurgau zu sehen.
Samstag, 12. August 2023, 20.30 Uhr
Lesung von Rachel Lumsden aus „Ritt auf der Wildsau" im Rahmen der Sternennacht im
Kunstmuseum Thurgau.
Donnerstag, 26. Oktober 2023, 19 Uhr
Ausstellungsrundgang „Wohin die Funken fliegen"
Rachel Lumsden im Dialog mit Kuratorin Stefanie Hoch
Das Buch: Ritt auf der Wildsau. Manifest für Malerei. Erschienen im Verlag Scheidegger & Spiess. 29 Franken. Erhältlich unter anderem hier.
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