von Inka Grabowsky, 09.07.2025
Die Jugend von heute

Michèle Minelli hat mit «Keiner bleibt zurück» einen neuen Roman vorgelegt. Darin schildert sie nach intensiven Recherchen die Probleme heutiger Sek-Schüler:innen. Das ist auch für Erwachsene aufschlussreich. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Wer heute die Sekundarschule besucht, gehört zur Generation «Alpha». Sie sei mehr mit Sozialen Medien als der realen Umwelt beschäftigt, wohlstandsverwahrlost, wenig leistungsfähig, stattdessen voller Angststörungen und mit Hang zu Sucht und Depression, heisst es in alarmistischen Fachbüchern.
Die Iselisberger Autorin Michèle Minelli zeichnet in ihrem jüngsten Roman ein anderes Bild von Teenagern. Kein Wunder – haben ihr doch Schülerinnen und Schüler aus dem Thurgau bei der Entwicklung von realistisch wirkenden Figuren geholfen. Und verständlicherweise finden die sich gar nicht so schlimm.
Spannende Coming-of-Age-Geschichten
«Keiner bleibt zurück» heisst der 224-Seiten lange Roman, der sich der dreijährigen Sekundarschulzeit von 13 Protagonisten widmet. Der Titel bezieht sich auf eine Teambildungs-Massnahme, die sich ein charismatischer Lehrer ausgedacht hat. Seine siebte Klasse, die neu zusammengewürfelt die Sek1 bei ihm beginnt, soll gemeinschaftlich einen kleinen See überqueren.
Passende Baumstümpfe dienen sportlichen und mutigen Kindern problemlos als Trittsteine – doch es darf eben keiner zurückbleiben. Auch die schwächeren oder ängstlichen Mitschüler sollen über den See.
Erzählt wird dieses Erlebnis drei Jahre später, als sich die Sek-Zeit dem Ende zuneigt. Und im Rückblick erscheint die unüberwindliche Herausforderung von damals als eines der Probleme, das noch am leichtesten zu lösen war. Minelli ist eine erfahrene Schriftstellerin. Durch Anspielungen und Verweise auf die Zukunft («Nie hätte ich gedacht, was danach kam») schafft sie Spannungsmomente, die den Jugendroman zu einem «Pageturner» werden lassen.
«Der Erste, dem der Boden unter den Füssen knackte, war noch nicht einmal ich. Der Erste, der einbrach und versank, war Tekkie. Wir schauten ihm zu und hofften, dass die Hand des Schicksals bei ihm Halt machen, dass sie uns nicht erreichen würde, nie.
Ha. Wir alle sollten noch von ihr gepackt werden. Und wie. Dabei war der Start verheissungsvoll.»
Über Jugendliche, aber für alle
«Ein Jugendroman ist es, weil er beim Jugendbuchverlag Jungbrunnen erscheinen ist», lacht Minelli, die natürlich nichts dagegen hätte, wenn sich auch Eltern, Göttis oder Lehrpersonen mit dem Thema «Erwachsenwerden heute» auseinandersetzen würden. «Das Buch ist insofern für Jugendliche gedacht, weil Eltern nur am Rande vorkommen. Allerdings war mir die Figur des prägenden Lehrers sehr wichtig.»
Dieser «Valdet Berisha» setzt sich vorbildlich für seine Klasse ein. Er wagt Experimente wie eben die Nachtwanderung durchs Feuchtgebiet. Er traut seinen Eleven etwas zu – was nicht immer funktioniert und was vom Kollegium so hämisch kommentiert wird, dass der Pädagoge fast verzweifelt.
Die Form: Ein erzählter Reigen
Die Erzählform ist ungewöhnlich. Minelli wählt den Reigen. Rund ein Dutzend Figuren erzählen nacheinander, was sie in der Schulzeit erlebt haben. Diese Idee sei während einer Schreibinsel im Frühjahr 2023 im Frauenfelder Schulhaus Auen entstanden, erzählt Minelli. «Schreibinseln» sind mehrteilige Workshops mit Kindern und Jugendlichen, die die Autorin im Auftrag der «Bibliothek der Kulturen» mehrfach durchgeführt hat.
Die Schüler lernen dabei kreatives Schreiben – unter anderem in Form eines Reigens, bei dem man eine Geschichte fortschreibt, die jemand anders begonnen hat. Minelli lässt ihre erfundenen Figuren ebenfalls an einer Schreibwerkstatt teilnehmen und erlaubt den Lesenden dadurch einen Einblick in dadaistische oder expressionistische Lyrik, in Leipogramme, autobiografische Miniaturen oder Flash Fiction.
All diese Literaturformen sind als Motto einem Kapitel vorangestellt. «Vor zwei Jahren fragte mich der Lehrer der Klasse, in der ich eine Schreibwerkstatt leitete, ob es ein Jugendbuch zum Thema Berufswahl gäbe. Ich wusste von keinem – also wollte ich selbst eines schreiben.»
Was der Roman nicht ist: autobiografisch
Nun liegt Minellis eigenen Schulzeit schon ein paar Jahrzehnte zurück. Und auch ihr Sohn ist mittlerweile 37. Ihre eigene Schulbiografie beschreibt sie als «für mich folgerichtig, von aussen betrachtet dysfunktional». Mit 14 war sie in ihrer Schule so unglücklich, dass sie auf ein Privatgymnasium wechselte, mit 16 ging sie an den Vorkurs der Kunstgewerbeschule, mit 17 begann sie als Stagiaire beim Film ihre berufliche Karriere.
«Meine Gefühle als Teenager sind der einzige autobiografische Teil des Romans», meint die 56-Jährige. Die Handlung sei frei erfunden. «Figuren wie Liv, die einen imaginären Freund hat, und Tekkie, der mit der Haftstrafe seines Vaters fertig werden muss, schleppe ich seit 2012 mit mir herum», erklärt Michèle Minelli. Für den kriminellen Vater gibt es ein reales Vorbild. «Vor Jahren hatte ich von einem Mann gelesen, der seine Betrügereien mit dem Lebensstil von Ehefrau und Kind entschuldigte. Das hat mich so wütend gemacht, dass es mir geblieben ist.»
Wie Entscheidungsängste den Alltag dominieren
Die Lebensbedingungen von Jugendlichen hat Michèle Minelli mit Hilfe von fünf Sek- und Kanti-Klassen recherchiert. Vor allem wollte sie wissen, welche Ängste und Sorgen Schülerinnen und Schüler heute haben. Sich für den falschen Beruf zu entscheiden, gehört eindeutig dazu. «Auch wenn es Lehrstellen im Überfluss zu geben scheint, muss man doch eine Entscheidung treffen, die gegebenenfalls das ganze Leben prägt.»
In Workshops hat sie die Jugendlichen um Feedback zu den Figuren gebeten. «Sie haben mir dadurch geholfen, sie weiterzuentwickeln. Ich wollte wissen, wie realistisch der Text ist. Und sie haben mir gesagt, welche Begriffe junge Leute in ihren Gesprächen bestimmt nicht mehr benutzen würden.»
Realistisch sind auch die Namen der Protagonisten. «Ich habe sie aus halbwegs aktuellen Klassenlisten neu kombiniert, weil ich eben nicht weiss, wie Kinder heute heissen. Das hatten mir jugendliche Leser meiner Entwürfe deutlich zu verstehen gegeben.» Jetzt passe das Buch in die Zeit. Einige Gruppen hätten die Figuren auch mit dem Zeichenstift skizziert. «Die zielstrebige ‹Blerta› habe ich auf dieses Weise viel besser verstanden.»
Klischeehafte Rollenzuweisungen?
Es scheint, als würde Minelli sich der üblichen Klischees bedienen. Sie schildert die Streberin, den Sportler, den jugendlichen Delinquenten, den Klassenclown, den Sohn reicher Eltern und den Jungen mit Lernschwierigkeiten. Sie räumt ein: «Es gibt Figuren, die gewisse Rollen innerhalb der Gruppendynamik besetzen. Elodie beispielsweise stiehlt, um sich ihren bürgerlichen Eltern zu widersetzen. Flora rappt und kommt passenderweise aus einem lauten Elternhaus. Umgekehrt gibt es Nico, der Pferde mag. Das wäre den Klischee nach eher was für Mädchen. Und es ist eben realistisch, dass Schülerinnen und Schüler innerhalb ihrer Klassen Rollen einnehmen. Das gibt Sicherheit.»
Unsicherheit entstünde, wenn es neue Mitschüler oder andere Änderungen der Lebensumstände gäbe. Dann erfänden sich die Kinder mitunter neu. «Zwischen 11 und 17 weiss man durchaus schon, wer man ist, auch wenn man quasi noch in einem Kokon ist und noch nicht die Möglichkeiten hat, sich zu entfalten. Unbeschriebene Blätter sind Teenager längst nicht mehr.»
Wirkung garantiert
Eines hat der Roman jetzt schon bewirkt: Die Einstellung der Autorin zu Jugendlichen hat sich verändert. Die Workshops zu den Figuren erlaubten ihr, hinter die Fassade von coolen, abgeklärten, selbstbewussten jungen Leuten zu schauen. Sie fand Empathie und Solidarität. «Die Schüler haben mir beispielsweise gesagt, dass sie alle eine Person wie Liv mit ihrem unsichtbaren Freund decken würden. ‹Die stört ja nicht›, hiess es. Die erwachsenen Lehrpersonen fanden genau das grenzwertig.»
Michèle Minelli: «Keiner bleibt zurück»
ab 12 Jahren, 26.90 Franken
Eine Leseprobe aus dem Roman gibt es hier.

Von Inka Grabowsky
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