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Die grosse Vorverkaufs-Krise

Die grosse Vorverkaufs-Krise
Zu viele leere Plätze sind nicht gut fürs Geschäft: Die Kulturbranche leidet unter einbrechenden Zuschauerzahlen. Und der Winter steht erst noch bevor. | © Canva

Nach den monatelangen Schliessungen wegen der Corona-Pandemie steht die Kulturbranche vor dem nächsten Problem: Das Publikum bleibt lieber Zuhause, die Zuschauerzahlen brechen ein. Und jetzt? Über eine Branche in Aufruhr. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)

Spätestens als Lara Stoll in einem Instagram-Post am 11. Oktober darüber schrieb war klar, da rollt ein neues Problem auf die Kulturbranche zu. „Sind noch ein paar Termine dazugekommen bis Ende Jahr. Wir alle kennen die aktuelle Vorverkaufskrise darum spreade ich das hier alles schon mal. Ich freue mich euch am einen oder anderen Ort - oder noch besser: ÜBERALL - zu sehen“, notierte die Kabarettistin unter ein Foto, das ihre kommenden Auftritte bis Ende Dezember listete.

Wenn schon eine etablierte und bekannte Künstlerin wie Lara Stoll unter dem Phänomen leidet und ihr Publikum schrumpft, wie soll es dann erst all den weniger bekannten Künstler:innen, all den vielen kleineren Veranstaltungen ergehen? Nach den monatelangen, pandemiebedingten Schliessungen droht der Kulturbranche nun das nächste Katastrophenszenario: Das Publikum bleibt lieber Zuhause, die Zuschauerzahlen brechen ein.

„Die Vorverkaufszahlen sind gerade dramatisch schlecht.“

Micky Altdorf, Programmchef des Festivals „Kabarett in Kreuzlingen“

Ganz gleich, wo man im Kanton in diesen Tagen hinhört, Kreuzlingen, Frauenfeld, Weinfelden, dieses Phänomen erleben gerade auch die Künstler:innen und Veranstalter:innen im Thurgau. Micky Altdorf, Gründer und Programmchef des Festivals Kabarett in Kreuzlingen, spricht von „dramatisch schlechten Vorverkaufszahlen“. Zum Auftritt der bekannten und renommierten Kabarettistin Simone Olga Anfang Oktober kamen 21 zahlende Zuschauer und 13 weitere Gäste mit einem Festivalpass. Nur dank Einladungen und seinem eigenen Team seien es am Schluss 60 Zuschauer gewesen.

Und es wird nicht besser: Für die drei Shows der weithin bekannten Ursus & Nadeschkin im November habe er (Stand: 18. Oktober) pro Abend gerade mal 130 Tickets verkauft bei einer Platzkapazität von jeweils 500 im Kreuzlinger Dreispitz. „In früheren Jahren waren diese Auftritte in der Regel innerhalb von sechs Wochen ausverkauft“, sagt Altdorf.

„Das Publikum ist seit Ausbruch der Corona-Krise nie mehr im gleichen Umfang zurückgekommen.“

Claudia Rüegsegger, Eisenwerk Frauenfeld

Ähnlich tönt es aus dem Eisenwerk in Frauenfeld: „Das Publikum ist seit Ausbruch der Corona-Krise nie mehr im gleichen Umfang zurückgekommen“, beschreibt Claudia Rüegsegger, Leiterin der Geschäftsstelle des Eisenwerk, die Situation. Der Vorverkauf laufe oft sehr kurzfristig und ziehe, wenn überhaupt, meist am Vortag der Veranstaltung an. „Insgesamt“, so das vorläufige Fazit von Claudia Rüegsegger, „halten einfach weniger Menschen einen Kulturbesuch für unabdingbar.“

Bei Dominik Anliker sieht das nicht wesentlich anders aus. Er organisiert verschiedene Veranstaltungen in Weinfelden und sagt: „Die Buchtage hatten tatsächlich keinen guten Vorverkauf. Dabei war spannend zu beobachten, dass mehr Festivalpässe vorgekauft wurden als in den Vorjahren jedoch weniger Einzeltickets. An die Veranstaltungen kamen zum Glück einige Personen spontan.“ Für ihn ist die Vorverkaufs-Krise „ein schweizweites Phänomen“. Das zeigten Gespräche mit Künstler:innen und anderen Veranstalter:innen.

„Diese Vorverkaufs-Krise ist ein schweizweites Phänomen.“

Dominik Anliker, Kulturveranstalter aus Weinfelden

Tatsächlich hatte die bundesweite Taskforce Culture bereits Anfang September in einer Medienmitteilung auf das Problem hingewiesen: „Das Publikum zeigt sich zurückhaltend, was sich insbesondere in schleppenden Vorverkäufen und geringem Publikumsaufkommen zeigt.“

Ist das jetzt also die nächste grosse Krise nach der ganz grossen Krise? Oder ist das jetzt erst die richtig grosse Krise?

Die Antwort darauf hängt davon ab, wen man fragt. Nicht alle sehen die Lage so dramatisch. Der Ticketing-Dienstleister Eventfrog beispielsweise verzeichnet auf Nachfrage einen starken Umsatzzuwachs seit dem Sommer. Reto Baumgartner, zuständig für PR und Kommunikation beim Unternehmen, erklärt sich das so: „Wir sind vor allem auf kleine und mittelgrosse Events fokussiert. Und dort ist die Bereitschaft der Konsumenten eher wieder vorhanden, einen Anlass zu besuchen, da es im kleineren Rahmen (wenige 100 Tickets) stattfindet und gefühlt die Risiken kleiner sind.“

Auch die Frauenfelder Theaterwerkstatt Gleis 5 will noch keine endgültigen Schlüsse ziehen: „Auf einen wahrlich verregneten Sommer sind ein sonniger September und milder Oktober gefolgt. Da zieht es die Menschen auch eher hinaus aus hinein. Wir sehen noch keinen Grund zum Jammern, aber wir werden die Lage im Auge behalten. Dass nun die Buchungen für unsere „Gott des Gemetzels“ ab November etwas anziehen, freut uns sehr“, schreiben Giuseppe Spina und Judith Zwick auf unsere Anfrage.

„Wir sind auch geistig zu Couch-Potatoes geworden, nicht nur körperlich. Wir müssen erst wieder fit werden.“

Andreas Beck, Intendant Residenztheater München

Die Lage bleibt insgesamt angespannt: Die Inzidenzzahlen steigen wieder, der Winter steht vor der Tür. Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass die Zuschauer:innen den Kulturveranstalter:innen sehr bald die Buden einrennen.

Ganz gleich, wie die kommenden Monate verlaufen werden, es verfestigt sich ein Eindruck: Monatelange Schliessungen kann man vielleicht irgendwie überbrücken dank Geldern vom Staat, aber wenn das Publikum dauerhaft ausbleibt, dann stellt sich neben der ökonomischen auch irgendwann die Sinnfrage.

Also: Was genau ist eigentlich das Problem? Warum bleiben die Zuschauer:innen gerade lieber Zuhause? Andreas Beck, Intendant des Münchner Residenztheaters, hat es in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung, sehr hübsch formuliert: Nach dem Lockdown müssten wir alle die Routine des Miteinanders neu einüben. „Wir sind auch geistig zu Couch-Potatoes geworden, nicht nur körperlich. Wir müssen erst wieder fit werden.“

„Wir müssen jetzt alle rauskommen aus der Gemütlichkeitsfalle. Sonst hat die gesamte Kulturbranche ein grosses Problem.“

Roland Lötscher, Theater Bilitz

Eine Erfahrung, die auch Roland Lötscher, Leiter des Theaterhaus Thurgau in Weinfelden und des dort spielenden Theater Bilitz, gemacht hat. „Ich merke das auch an mir selbst, ich bin viel weniger unterwegs als vor der Pandemie. Ist ja auch gemütlich daheim. Aber jetzt wäre es an der Zeit, dass wir rauskommen aus der Gemütlichkeitsfalle, sonst haben wir echt ein Problem. Denn: Auch das Theaterhaus Thurgau leidet. „Bei den Vorstellungen für Erwachsene haben sich die Reservierungen etwa halbiert im Vergleich zu vor Corona“, sagt Lötscher.

Fragt man jene, die sich als potenzielles Publikum von Kulturveranstaltungen betrachten, bekommt man allerdings eine ganz andere Antwort auf die Frage, weshalb sie derzeit nicht ausgehen - die Zertifikatspflicht. Die sei diskriminierend, schreibt beispielsweise Yanick Volpez in einer E-Mail an uns.

„Die aktuelle Situation erlaubt keine andere Lesart mehr, als dass wir (Ungeimpften) schlichtwegs nicht länger willkommen sind. Dass unser Handeln, unsere Bedenken und unsere Ängste in der öffentlichen Debatte systematisch marginalisiert werden, giesst dieser teilweise zurecht als trotzig empfundenen Haltung nur Wasser auf die Mühlen.“

„Als Ungeimpfter fühle ich mich nicht mehr willkommen bei Kulturanlässen.“

Yannick Volpez

Sonja Rast-Berli verweist noch auf einen anderen Punkt: „Ich habe keine Lust dauernd einen Rachenabstrich über mich ergehen zu lassen. Zudem werden gewisse Veranstaltungen mit Eintrittsticket und den Kosten für einen PCR-Test sehr teuer“, so Rast-Berli in einer E-Mail an uns.

Diese beiden Stimmen stehen nur stellvertretend für zahlreiche weitere Mails, die uns auf unseren Aufruf vor drei Wochen erreicht haben (siehe Kasten am Ende des Textes). Sie alle verbindet die Ablehnung der Zertifikatspflicht.

Das Kulturleben wird in den privaten Raum verlegt

Was aus dieser Ablehnung heraus entstehen kann, beschreibt Volker Mohr in seiner Nachricht: „Auch wir besuchen keine offiziellen Veranstaltungen mehr. Stattdessen nehmen wir an »privaten« Veranstaltungen teil, von denen es immer mehr gibt und die bisweilen mit hochkarätigen Programmen aufwarten. Hier bleibt das Publikum nicht weg!“

Sollte es tatsächlich ein grösserer Trend sein, dass Veranstaltungen von Ungeimpften in den privaten Bereich verlegt werden, dann wäre das nicht nur epidemiologisch ein Problem, sondern vor allem gesellschaftspolitisch fatal - die weitere Aufspaltung der Gesellschaft in abgeschlossene Zirkel wäre die Folge. Das kann eigentlich niemand wollen.

„Der Zugang zu qualifizierten Tests - auch Antikörpertests - muss niederschwellig und kostenlos sein.“

Taskforce Culture in ihrem Positionspapier zum Covid-Zertifikat im Juni 2021

Einen Weg aus dem Dilemma hatte die Taskforce Culture im Juni in ihrem Positionspapier zum Covid-Zertifikat aufgezeigt. Das Zertifikat dürfe nicht zum „Kultur-Ausschluss“ gewisser Personengruppen führen, hiess es da. Und: „Der Zugang zu qualifizierten Tests - auch Antikörpertests - muss niederschwellig und kostenlos sein, die Kantone müssen die Testkapazitäten gewährleisten, um die erhöhte Nachfrage, etwa im Vorfeld einer grösseren Veranstaltung, bewältigen zu können.“

Es ist inzwischen anders gekommen. Und selbst wenn man das Impfen als die beste Lösung ansieht, diese Pandemie zu überwinden, muss man konstatieren: Es wäre klug gewesen, dies genauso zu handhaben. So lange es keine Impfpflicht gibt, und der Staat das Testen als gleichrangige Methode betrachtet, müssten die Tests ebenso kostenlos sein wie die Impfung.

Einerseits.

Absolute Freiheit? Kann es in einer Gemeinschaft nie geben

Andererseits könnten manche Impfgegner und Massnahmenkritiker auch mal darüber nachdenken, ob ihr ständiges Pochen auf die eigenen Freiheiten ohne Rücksicht auf die anderen nicht vielleicht doch ein bitzli unsolidarisch ist. Absolute Freiheit kann es in einer Gemeinschaft nie geben. Das Grad der individuellen Freiheit bemisst sich immer an der Freiheit der anderen.

Und so sind wir im Herbst 2021 in einer ziemlich verfahrenen Situation gelandet. Gesellschaftlich zersplittert, die Kulturbranche in Existenzängsten. Alex Meszmer, Geschäftsleiter bei Suisseculture, sieht noch lange keine Normalität in seiner Branche. „Wir gehen davon aus, dass sich frühestens 2023 so etwas wie ein Normalzustand, also ein Zustand wie vor der Pandemie, in der Kultur einstellen könnte. Bei grossen internationalen Festivals könnte es noch länger dauern“, so die trübe Prognose der Kulturfunktionärs.

2023. Frühestens. Das können zähe Monate für viele werden bis dahin.

„Wir gehen davon aus, dass sich frühestens 2023 so etwas wie ein Normalzustand, also ein Zustand wie vor der Pandemie, in der Kultur einstellen könnte.“

Alex Meszmer, Suisseculture (Bild: Sascha Erni)

Gibt es denn gar keinen Hoffnungsschimmer? Doch.

Er kommt aus dem Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen. „Seit der Wiedereröffnung der Museen im März 2021 nahm der Besucherzustrom ständig zu. Unsere Veranstaltungen waren seitdem fast alle ausgebucht, bei der Langen Nacht der Bodenseegärten Anfang September hatten wir ein Rekordjahr mit 220 Besucher:innen“, schreibt Cornelia Mechler, Leiterin Verwaltung, Marketing und PR am Kunstmuseum.

Nicht mal mit dem Covid-Zertifikat gebe es Probleme: „Die Zertifikatspflicht wird mittlerweile anstandslos akzeptiert, wir konnten weder durch die Maskenpflicht noch durch die Zertifikatseinführung feststellen, dass sich Leute vom Museumsbesuch abhalten liessen“, so Mechler weiter.

Geht doch.

 

Kasten: Weitere Reaktionen auf unsere Umfrage

Grosser Rücklauf: Als wir vor drei Wochen nach den Erfahrungen unserer Leser:innen zum Thema fragten, bekamen wir weit mehr Zuschriften als wir in dem obigen Text verwenden konnten. Weil aber jede Antwort für sich interessante Einblicke gibt, dokumentieren wir hier weitere Stimmen aus dem Kanton zum grossen Thema Vorverkaufs-Krise und Besuche von Kulturveranstaltungen in Zeiten von Corona.

 

Beat Krähemann, Präsident und Schauspieler der Theatergruppe Wängi: «Nach der Absage unserer Vorstellungen im Januar 2021 haben wir Mitte August nach einigen Diskussionen beschlossen, mit den Proben zu beginnen und hoffen nun, dass wir Anfang Januar 22 die 10 Vorstellungen über die Bühne bringen. Natürlich wissen wir, dass alles auf sehr wackligen Beinen steht und halt noch vieles ungewiss ist.

 

Wie in vielen anderen Vereinen und Gruppierungen haben auch wir Mitgliederinnen und Mitglieder, welche sich nicht impfen lassen wollen oder können. Diese sind natürlich für uns das grösste Risiko, denn sie müssten nach einem Kontakt mit einem Positiven in Quarantäne, im Gegensatz zu den Geimpften. Natürlich kann sich bis im Januar wieder alles ändern, wir werden aber die Situation genau beobachten und sind guter Hoffnung, dass es klappen wird. Wir haben in der Gruppe auch eine kleine Corona-Taskforce, welche die Situation laufend analysiert und gegebenenfalls Regeln und Empfehlungen an die Gruppe abgibt. Wir haben zwei Daten definiert, an welchen wir die Notbremse ziehen könnten, zum einen an unserer Jahresversammlung Ende Oktober, und dann spätestens am 13. Dezember, am Tag des Reservationsbeginns.

 

Was der Publikumsaufmarsch betrifft, tappen wir noch völlig im Dunkeln. Im Januar 2020 durften wir über 2000 Zuschauer in Wängi begrüssen (praktisch alle Aufführungen ausverkauft), wir gehen aber davon aus, dass es dieses mal weniger sein werden. Unser Ticketpartner hat die Erfahrung gemacht, dass vor allem die professionellen Häuser noch schleppende Reservationen haben, kleinere Dorfveranstaltungen aber weniger Probleme bekunden. Am Starttag des Ticketverkaufs können wir dann sicher einen ersten Trend herauslesen, beim letzten mal waren nach 2 Stunden schon die Hälfte aller Tickets verkauft!»

 

Simon Hungerbühler, Theater an der Grenze Kreuzlingen: „Meiner Meinung nach dauert der Trend, sich spontaner zu entscheiden und das Abendprogramm weniger früh fix festzulegen, schon länger an. So als generelles Phänomen in unserer Gesellschaft, sich weniger verpflichten zu wollen. Corona hat die Sache bestimmt verstärkt."

 

Anne Seiterle: „Wieso soll die Pandemie, besser gesagt, die Massnahmen, nicht mehr so ganz unser Leben betreffen? Ich bin gesund, nicht ansteckend, darf aber in kein Restaurant, in kein Museum, an keine Kulturveranstaltung. Da 3 G absurd ist: an Corona Erkrankte dürfen hinein, wenn sie geimpft sind, mache ich dieses Theater nicht mit. (Andere auch nicht).

 

Als ob man sich im Restaurant mit Schutzkonzept anstecken könnte. Als ob sich an den Veranstaltungen, die ich diesen Sommer besucht habe, irgendwer hätte anstecken können. Ich organisiere eigentlich auch Kultur. Das geht momentan auch nicht, höchstens auf privater Basis, im kleineren Rahmen. Solche Treffen sind sehr schön, ganz normal, ohne Angst, weil mit Eigenverantwortung: Kranke bleiben zuhause."

 

 

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