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von Barbara Camenzind, 27.02.2024

Die Abgründe unerlöster Sehnsüchte

Die Abgründe unerlöster Sehnsüchte
Einsam zu zweit im Tongeflecht der Tankstelle: Naomi Schwarz und Christoph Luchsinger bei der zweiten Nœise-Performance „Land“. | © Barbara Camenzind

Die Neue-Musik-Reihe NŒISE gastierte am Wochenende in einer alten Autowerkstatt auf dem Land. Es wurde eine Hommage an einen sehr einsamen Vollmondabend voller wunderbarer schräger Poesie. (Lesedauer: ca. 2 Minuten)

Schade, dass der Tank noch fast voll war. Der Diesel war an jenem Abend in Siegershausen auch sensationell günstig mit 187 Rappen. Die Zapfsäulen der Tankstelle bei der alten Autowerkstatt sind an einem Freitag rege frequentiert.

Hineingenistet in diesen Ort des Nichtbleibens haben sich Christoph Luchsinger als Tankstellen- und Kioskkassierer, Naomi Schwarz als gruselige Reinigungskraft im Sorcière-Stil, eine Selecta-Automaten-Attrappe, die statt Kaffee Klänge und Geräusche spuckte, ein Multimediakünstler (Leandro Gianini) und ein Komponist (Léo Collin), der die Avantgarde so sehr liebt wie ein Getriebe das Motorenöl. Und darüber dieser Vollmond, der einem Horrorfilm alle Ehre gemacht hätte. Was für ein - Entschuldigung - geiles Arrangement für zeitgenössische Musik!

Klingelkonversation an der Kasse

Die digitalen Klänge, zum Teil generiert aus den Körpermikrofonen von Naomi Schwarz sowie aus sogenannten Patterns, also harmonisch oder rhythmisch wiederkehrende Strukturen, aus den Videos und Christoph Luchsingers dreistufiger Trompete, verbanden sich mit den Geräuschen der Autos, den Urwaldvögeln und den Schnarrflegeln des Publikums, das - natürlich wie üblich in dieser Konzertreihe - wieder einmal mitspielen durfte und musste. 

Konversation an der Kasse via Klingel und Glockenspiel, oder wer war schon einmal DHL-Paketbote? Wessen Nummer aufgerufen wurde, war dabei. Auf Stippvisite in den Abgründen der unerlösten Sehnsüchte zweier Gestrandeter im Arbeitsprozess einer Tankstelle.

 

Dilemma mit Riesengeigenbogen und Kartonschachtelgau: Alles ist Musik. Bild: Barbara Camenzind

Ist da draussen jemand?

Während Kassier Chris75 sich in den Weiten des Internets, den sozialen Medien und des Online-Gamings verlor, telefonierte Reinigungskraft Schwarz sich durch ihre Einsamkeit. Coole Stimmverfremdungen machten das Hörerlebnis an den Stellen besonders intensiv. Ihren poetisch stärksten Moment hatte Naomi Schwarz mit dem Psalterium, das mit seinen monochordartigen Klangkaskaden in den Kompositionen Collins fast wie eine Klangbotschaft von Ausserirdischen wirkte.

Und dann schien dieser Selecta-Automat krank geworden zu sein. Zumindest tönte es danach, zum Amüsement des Publikums. Oder draussen an den Zapfsäulen hatte jemand Bleifrei statt Diesel getankt. Stand der jetzt wirklich dort, oder war das Video ein Fake? In „Chroniken einer Tankstelle” verschwammen Realität und Fiktion zu einem hochspannenden Traumgebilde aus Klängen, Farben, Formen und herrlich gutem Krach. Oder wie sollte man Musik mit einem Riesengeigenbogen, generiert aus einem Kartonschachtelturm, anders nennen?

 

Ohne Tontechnik kein Nœise: Klang und Lichtkünstler Leandro Gianini bei seiner hochkonzentrierten Arbeit.  Bild: Barbara Camenzind

Hommage statt Selbstdarstellung

Die Lust am Spiel an diesem Ort, wo das Spiel eigentlich schon aus ist, hat fasziniert und bewegt. Noch nie hat sich Nœise an einen Ort gewagt, wo die Schere zwischen zeitgenössischer Kunst und Thurgauer Alltag so gross war.

Das Projekt „Stadt“ war mit Ausgangsort Rathaus Weinfelden als klassischer Konzertraum noch viel mehr in der angestammten Bubble verhaftet. Frech und feinsinnig versuchten die Künstlerinnen und Künstler ihre Performance in diesen seltsam anrührenden Ort hineinzuverweben. Zeitgenössische Kunst jeglicher Gestalt kann sehr herablassend daherkommen, wenn man so genannte „abgefahrene Locations” einfach zur Selbstdarstellung braucht. NŒISE hat dem Ort in Siegershausen durch seine „Bespielung” eine Hommage entgegengebracht: klingend, rätselhaft, voller dunkler Poesie und Schönheit.

Das zu erleben war eindrücklich und - auch etwas amüsant. Bis jetzt die beste Produktion aus der gesamten NŒISE-Reihe. Wir dürfen gespannt sein, ob bei der thematischen Konzertreihe zum „See” im Sommer dann tatsächlich Wale gesichtet werden. Zuzutrauen wäre es den Initiatorinnen und Initiatoren der Reihe allemal.

 

Impressionen aus der ehemaligen Autogarage. Bild: Barbara Camenzind

 

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