von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 29.09.2023
Das grosse Suchen
Seit Januar sind Ulrich Vogt und Reto Müller die neuen Kuratoren des Kunstraum Kreuzlingen. Ihre erste Ausstellung mit Renate Flury, Dieter Hall und Kier Cooke Sandvik zeigt - der Wille zu Veränderung ist da. Die Umsetzung überzeugt noch nicht immer. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Existenziell. Spielerisch. Spirituell. Mit diesen drei Worten beschreibt Renate Flury ihre Arbeit. Die gerade 70 Jahre alt gewordene Weinfelder Künstlerin hat in den vergangenen Jahrzehnten an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen. Sie begann als Musikerin, Tänzerin, Bildhauerin und arbeitet inzwischen ausschliesslich als Bildende Künstlerin. Im Kunstraum Kreuzlingen zeigt sie noch bis 27. Oktober ihre Ausstellung „Wie es mir gefällt“. Zu sehen sind dort Malereien aus den vergangenen fünf Jahren. „Meine Kunst entsteht aus Notwendigkeit und Neugier“, sagt sie in einem Video der Thurgauischen Kunstgesellschaft (am Ende des Textes verlinkt).
In ihrer künstlerischen Arbeit interessieren sie besonders „Form, Freude und Struktur“, wie sie sagt. Sie könne gar nicht anders als künstlerisch tätig zu sein: „Es ist ein Müssen“, erklärt sie. Daraus zu schliessen, dass ihre Werke etwas verkrampftes haben, wäre falsch. Gerade die jetzt im Kunstraum zu sehenden Malereien zeichnen sich eher auch eine wolkige Leichtigkeit aus.
Eigentlich erstaunlich angesichts der persönlichen Schicksalsschläge, die Flury zu erleiden hatte. Durch ihre MS-Erkrankung ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. In ihrer Schaffenskraft lässt sie sich dadurch nicht bremsen. Eindrucksvoll zeigt das der 2017 erschienene Film „Gute Tage“, in dem Künstler:innen mit Einschränkungen aus ihrem Alltag berichten.
Video: Im Trailer zu Gute Tage sieht man auch Renate Flury bei der Arbeit (ab 0:49 Minuten)
Das Konkrete im Abstrakten
Die 13 abstrakten Arbeiten, die Renate Flury nun in Kreuzlingen zeigt, berühren durch ihre opulente Farbigkeit. Wobei - ist das wirklich abstrakt oder sind da unter der Oberfläche nicht durch Formen und Bilder zu erkennen? Ein Wald in einer blau-schwarzen Nacht? Ein unter tiefen Blautönen verschwommen zu erkennendes Korallenriff am Grund eines Meeres? Ein undurchdringbares Schneegestöber an einem hellen Wintertag? Renate Flury lässt offen, was ihre Werke bedeuten. Kunst ist das, was die Betrachter:innen darin sehen.
Einziger Kommentar zu den Arbeiten - jedes Werk wird von einem Blumenarrangement (Patrizia Keiser) begleitet. Je nachdem wie die Pflanzen wachsen und je nachdem aus welchem Winkel man auf diese Komposition blickt, ragen die Blumen bisweilen in die farbigen Flächen der Malerei und erweitern sie in den Raum hinein. Eine interessante Spielerei. Dabei stellt Renate Flury mit ihrer Kunst durchaus relevante Fragen: Was ist Oberfläche? Wo beginnt der Untergrund? Wie viele Schickten liegen dazwischen? Und was passiert eigentlich ganz unten in der Tiefe?
Schwarze Pianos, weisse Stühle
Die Vielschichtigkeit von Flurys Arbeiten zeugt jedenfalls von einem intensiven und explorativen Kunstprozess. Das weitere Setting der Ausstellung kontrastiert die Farbigkeit von Flurys Arbeiten: Sie hängen auf schwarzem Grund. Zwei schwarze Pianos und zwei Reihen weisser Klappstühle. Die waren ursprünglich nur für die Vernissage gedacht, haben sich aber inzwischen als fester Bestandteil der Ausstellung etabliert. Im Kunstraum ist eben immer alles im Fluss, alles „Work in Progress“.
Auch für die beiden Kuratoren Ulrich Vogt und Reto Müller ist diese Ausstellung etwas Besonderes - es ist ihre erste eigene Ausstellung seit dem sie den Kunstraum vom verstorbenen Richard Tisserand übernommen haben. Ob das eine bewusste Setzung sei, dass sie mit Renate Flury nun eine etablierte Künstlerin zeigen? Ulrich Vogt lächelt: „Das kann man schon so sehen. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass der Kunstraum offen ist für jegliche Form spannender Gegenwartskunst.“
Renate Flury kenne er schon lange, bereits in seiner Zeit als Kurator im Eisenwerk Shed habe er ihr eine Schau gewidmet. „Ich finde, sie ist eine wirklich aussergewöhnliche Künstlerin und ein sehr besonderer Mensch“, so Vogt im Gespräch mit thurgaukultur.ch
Das Tiefparterre kuratiert jetzt ein Künstler
Während Renate Flury also im Erdgeschoss des Kunstraums auf ihre letzten fünf Schaffensjahre zurückblickt, sind im Tiefparterre Arbeiten von Dieter Hall und Kier Cooke Sandvik zu sehen. Unter Richard Tisserand war das Tiefparterre immer der dunkle Ort, an dem sich vor allem Videokünstler:innen ausprobieren durften. Es war fast immer ein satter Gegensatz zu dem, was man im hellen Stockwerk oben drüber sehen konnte. Damit brechen die neuen Kuratoren.
Beziehungsweise sie lassen damit brechen. Denn: Sie haben das Tiefparterre auf unbestimmte Zeit an den kürzlich mit einem kantonalen Förderprojekt ausgezeichneten Künstler Ray Hegelbach vergeben. Er lädt sich dafür unterschiedliche Künstler:innen ein und wird gemeinsam mit ihnen unter dem Titel „The Egg Candler“ (Eierkerzenhalter) mehrere aufeinander folgende Ausstellungen kuratieren.
Stillleben treffen auf Videogames
Zum Auftakt sind dort Dieter Hall (*1955) und der junge Norweger Kier Cooke Sandvik (*1987) zu Gast. Während Hall seinen Blick auf Stilleben und scheinbar profane Momente des Alltags richtet, arbeitet Kier Cooke Sandvik mit Motiven aus Videogames, Populärkultur und Mode.
Die Frage nach der eigenen Identität nimmt bei ihm einen grossen Raum ein. In drei Tisch-Installationen und auf einer Spiegelwand hat Sandvik Zeichnungen, Collagen, Malereien und Miniatur-Modelle, die wie kleine Puppenhäuser aus der Werkstatt von David Lynch anmuten, zusammengestellt. Die Arbeiten stammen aus verschiedenen Werkserien von 2007 bis 2023.
Interessant hier: Wer das Tiefparterre bislang vor allem als düsteren Ort kannte, wird staunen. Hegelbach hat Teile der Verdunkelungsfolie von den Fenstern gerissen und lässt so Stück für Stück mehr Tageslicht in den Kellerraum. Man kann die Fenster inzwischen sogar öffnen. Das darf man durchaus auch symbolisch verstehen: Das Motiv des Durchlüftens als Zeichen des Aufbruchs auf dem Weg zu neuen Ufern liegt hier nahe.
Durchlüften ist gut, aber was kommt dann?
Das ist allerdings auch das beste, was man über die erste Ausgabe des „Egg Candler“ sagen kann. Es entsteht kein Miteinander der beiden Künstler, ihre Werke stehen bestenfalls nebeneinander. Kurator Ray Hegelbach gelingt es auch nicht zu vermitteln, weshalb nun gerade diese beiden Künstler aufeinander treffen. Man verlässt einigermassen unberührt das Tiefparterre und denkt still für sich - die Dunkelheit der früheren Jahre hatte auch Vorzüge.
Aber auch das war schon immer so im Kunstraum, die Kreuzlinger Kunsthalle ist ein Ort, an dem Dinge entwickelt werden können. Das Scheitern ist hierbei immer eine Möglichkeit. Kurator Ulrich Vogt begrüsst das ausdrücklich: „Wir haben eine Freude daran, dass es hier kein starres Konzept gibt, sondern, dass alles immer ein grosses Suchen ist.“
Video: 20 Fragen an Renate Flury
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