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von Kurt Schmid, 13.11.2009

A propos Leuchttürme: Bellevue

A propos Leuchttürme: Bellevue

Kurt Schmid

Einst war’s eine Asylantendruckerei, dann eine private psychiatrische Klinik: das Bellevue in Kreuzlingen. Abgeschottet von der Umgebung wurden politische Schriften produziert und nach Deutschland eingeschleust. Das war Nachhilfe der Alpenrepublik für die sechzig Jahre nach 1848 entstehende Bundesrepublik. Und geheim.

Ein geheimes Dorf im Dorf war auch die psychiatrische Klinik. Kaum jemand ausserhalb wusste, was da vorging. Kreuzlingen lag im Schatten. Die Lichtstrahlen gingen weit. Der Leuchtturm hatte einen Namen: Ludwig Binswanger. Und die Signale wurden europaweit empfangen, von illusteren Patientinnen und Patienten wie von Geistesgrössen. Sigmund Freud brachte den ersten „Fall“ der Psychoanalyse im Bellevue unter: Anna O. Aby Warburg hielt als Patient nach jahrelangen depressiven Schüben seinen heute berühmtesten Vortrag über das Schlangenritual. Alfred Döblin fand den Flucht-Weg aus Nazideutschland über Kreuzlingen. Das Bellevue entwickelte fortlaufend neue Konzepte der psychiatrischen Betreuung als Interaktion und Daseinsanalyse. Auch nach dem grossen Ludwig und bis zum bitteren Ende.

Der Versuch, den Villenpark mit Ausstrahlung für Kreuzlingen in den Achtzigerjahren zu retten, misslang. Die Stadt zog zwar mit, die Stimmbürger nicht. Es durfte abgeholzt und überbaut werden. Das Binswanger-Archiv verliess den Thurgau und die Schweiz. Und als der ThinkTankThurgau wie alle andern auch von Leuchttürmen zu reden anfing, identifizierte er u.a. die Unterseelandschaft als bedeutend, die Arenaberge von Wölfen, bewehrt mit Türmen und Höfen und bevölkert noch mit nachgelassenen einzelnen Napoleoniden. Das Bellevue sah er nicht.

Übrigens: Dieser Leuchtturm ist erloschen. Nicht einmal eine Tafel erinnert an den einstigen Brennpunkt von europäischer Bedeutung und Weltgeltung.

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