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von Katrin Zürcher, 20.03.2013

Umgeben von Büchern und Schneckenhäuschen

Umgeben von Büchern und Schneckenhäuschen
„Ich schaue gern zum Fenster hinaus“, sagt der Schriftsteller Gianni Kuhn an seinem Arbeitsplatz in Frauenfeld. | © Katrin Zürcher

Sein Arbeitsplatz in Frauenfeld ist ihm Inspiration: Der Schriftsteller Gianni Kuhn beschreibt in seinen Gedichten und Geschichten den ganz alltäglichen Wahnsinn. Die Ideen dazu findet er auch unterwegs oder bei seiner Arbeit in der Kartause Ittingen.

Katrin Zürcher

Gianni Kuhns Gedichte und Geschichten entstehen mitten in Frauenfeld, in einem Arbeitszimmer mit altem Parkett und hoher Stuckdecke. Der Schriftsteller teilt es mit seiner Frau, der Fotokünstlerin Simone Kappeler. Arbeiten beide gleichzeitig darin, sitzen sie sich gegenüber. Auf seiner Seite stehen Laptop und Bücher, auf ihrer gibt es eine Sammlung von Steinen und Schneckenhäuschen. An den Längswänden stehen zwei grosse Aquarien mit Kongo-Salmlern. Meistens arbeiten beide an eigenen Projekten, manchmal auch an gemeinsamen. Am 23. März eröffnet Simone Kappeler ihre Ausstellung „Rotverschiebung“ im Eisenwerk. Darin wird Gianni Kuhn am 2. Mai mit Zsuzsanna Gahse zum Thema Rot lesen. Der Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers geht auf die Zürcherstrasse und zum Coop Schlosspark. Das Paar bewohnt das Elternhaus von Simone Kappeler seit vielen Jahren; hier sind auch ihre drei zwischen 1984 und 1989 geborenen Söhne aufgewachsen.

„Nicht zu schreiben wäre ungesund“

„Ich schaue gern zum Fenster hinaus“, sagt Gianni Kuhn, „beobachte Menschen, stelle mir vor, wo im Leben sie stehen.“ Aus fast allen Beobachtungen könnten Geschichten entstehen. Das Schreiben ist ihm ein Bedürfnis. „Ich könnte nicht sein ohne, das wäre ungesund.“ Erste, kritische Lektorin der Geschichten und Gedichte ist seine Frau, erst danach wird der Verleger einbezogen. Neun Bücher sind bisher im kleinen süddeutschen Verlag Isele erschienen; Gedichte, Roman und Novelle, Erzählungen, Kurzgeschichten. Das jüngste Werk „Calais-Dover“ ist eine Sammlung von Geschichten aus Frankreich. Frankreich ist Gianni Kuhn zur „kleinen Heimat“ geworden, wie er sagt. „Ich mag die Sprache, die Kultur, die Landschaft, das Essen.“ Früher reiste die Familie jeden Sommer nach Südfrankreich, heute zieht es ihn eher nach Paris. Auf Reisen hat er immer ein kleines blaues Heft dabei. Er zieht ein paar der Hefte aus dem Regal. „Prag“ steht auf einem, „London“ und „Wien“ auf anderen.

Sich schreibend treiben lassen

Ins Heft „Paris“ notierte er die Szene mit der jungen Frau, die sich eines frühen Morgens vor seinem Hotelfenster nahe Nôtre-Dame abspielte. „Sie redete mit zwei jungen Männern, die auf einem Motorrad kamen. Es war ein Hin und Her, sie fuhren weg, kamen zurück, redeten wieder.“ Zu Hause in Frauenfeld entstand daraus eine Kurzgeschichte, die er auf seinem Laptop unter „Paris“ gespeichert hat. In Dutzenden von virtuellen Ordnern reifen die Geschichten, bis sich ein Thema verdichtet und ein Buch entsteht. Beim Schreiben lässt sich der 57-Jährige treiben und schaut, wohin ihn der Text führt, wie sich seine Figuren entwickeln, was sie denken und tun. Sein Interesse gilt dem Kleinen, dem Unscheinbaren – „dem ganz alltäglichen Wahnsinn“. Ideen für seine Geschichten findet er auf Reisen, im Strassencafé oder bei der Arbeit.

Roman aus dem Künstlermilieu

Dass sein bislang einziger Roman, „Der Falschspieler“ aus dem Jahr 2004, im Umfeld eines Kunstmuseums spielt, ist kein Zufall. Gianni Kuhn hat darin manches beschrieben, was er aus eigener Erfahrung kennt. Seit 1984 arbeitet er im kantonalen Kunstmuseum, zuerst in einem Pensum von 50 Prozent, heute zu 70 Prozent als Leiter der Ausstellungstechnik. Im Lauf der Jahre hat er ungezählte Kunstausstellungen eingerichtet, die Wünsche der Künstlerinnen und Künstler erfüllt, den Rücktransport der Werke organisiert. Wie hat sich der Kunstbetrieb in den rund 30 Jahren verändert? „Früher gab es nur zweierlei“, antwortet er, „Bilder an der Wand und Skulpturen auf Sockeln.“ Es genügte zu wissen, wie und auf welcher Höhe Bilder anzubringen waren. „Dann hat sich das Video eingeschlichen, plötzlich brauchte es Monitoren und Beamer, das räumliche Denken wurde wichtiger.“ Er findet den installativen Bereich der Kunst, das Arbeiten in den Raum hinein, sehr faszinierend, obgleich er einräumt: „Zehn Videos zu installieren ist anstrengender als hundert Bilder aufzuhängen.“

Als einer der ersten mit Buggy unterwegs

Bevor Gianni Kuhn in Frauenfeld sesshaft wurde, bereiste er die ganze Welt. 1955 geboren und in Gossau aufgewachsen, studierte er in Zürich ein paar Jahre Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie, absolvierte die Kunstgewerbeschule St. Gallen und die Theaterschule Paris. Sein Geld verdiente er mit den verschiedensten Jobs. In New York verliebte er sich in Simone Kappeler. Als das erste Kind unterwegs war, liess sich das Paar in Frauenfeld nieder. Er fand eine Teilzeitstelle im Kunstmuseum und kümmerte sich um die Kinder: „Ich war einer der ersten Männer, die mit einem Buggy unterwegs waren.“ Sooft Zeit übrig blieb, malte, schrieb und musizierte er. Seit der Veröffentlichung seines ersten Buchs im Jahr 1999 konzentriert er sich künstlerisch aufs Schreiben. Diesem ersten Buch, dem Gedichtband „alpseen. meerkanten. anderorten“ (Edition Isele) ist das folgende Gedicht entnommen:

lass mich einmal

lass mich für einmal
ins blaue starren,
ins land fahren,
einen baum rammen,
mit dem leben davonkommen
amen

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