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von Manuela Ziegler, 27.10.2025

«Wir sind abhängig von den Eingaben»

«Wir sind abhängig von den Eingaben»
Michelle Geser Lunau, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kulturamt Thurgau. | © Manuela Ziegler

Was lässt sich aus den Ergebnissen unserer quantitativen Analyse zur Vergabe der Kulturförderbeiträge des Kantons lesen? Ein Gespräch mit Michelle Geser Lunau. Sie ist Juryvorsitzende für das Kulturamt Thurgau bei der Vergabe der Auszeichnungen. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Mit einer zahlenbasierten Untersuchung der personenbezogenen Förderbeiträge in den vergangenen fünf Jahren haben wir gezeigt, welche Kunstsparte am meisten gefördert wurde, geben Auskunft über die Geschlechterverteilung der Empfänger sowie ihr Alter. Alle Ergebnisse haben wir hier zusammengefasst.

Aber was bedeutet das jetzt für die zukünftige Kulturförderung? Und welche Schlüsse lassen sich aus den Daten ziehen. Zu den Ergebnissen und zur Jurierung der personenbezogenen Förderbeiträge haben wir Michelle Geser Lunau, wissenschaftliche Mitarbeiterin des kantonalen Kulturamt, befragt. Sie hatte bereits mehrmals den Juryvorsitz inne und erklärt das Auswahlverfahren.

Frau Geser Lunau, unsere Auswertung der personenbezogenen Förderbeiträge in den Jahren 2020 bis 2024 hat gezeigt, dass die meisten Beitragsempfänger:innen aus der Sparte Bildende Kunst stammen (14). Weit abgeschlagen folgen Musik (6), Film und Foto (4) sowie Literatur (3) und Tanz + Theater (3). Wie kommt es zum Überhang der Bildenden Künstler:innen unter den Geförderten?

Es gehen jährlich über 60 Gesuche für diese Art der Kulturförderung ein. Fast die Hälfte dieser Gesuche kommt aus der Bildenden Kunst. Also gibt es einen sehr grossen Überhang in dieser Sparte, deshalb werden aus dieser Sparte auch mehr Künstler:innen ausgewählt. Aus anderen Sparten kommen manchmal keine oder nur ganz wenige Gesuche. Das ist der Grund, warum nicht alle Sparten immer vertreten sind. Wir können nur auf die Gesuche reagieren, die bei uns eingehen.

 

Das Verhältnis von weiblichen (16) und männlichen Förderbeitragsempfänger:innen (14) ist nahezu gleich. Die Frauen überwiegen leicht. Über Diversität lassen sich keine Aussagen machen. Wie stellen Sie Diversität sicher?

Das Geschlecht wird im Antragsformular nicht abgefragt. Die Jury legt selbstverständlich ein Auge darauf, dass Positionen von Frauen und Männern ausgewogen berücksichtigt werden. Entscheidend sind jedoch immer das Dossier und das eingereichte Vorhaben.

 

Zusammensetzung der Jury für die personenbezogenen Förderbeiträge

Die Jury setzt sich aus internen und externen Fachexpert:innen des Kulturamts zusammen. Es gibt drei Fachgruppen – je eine für die Sparte Visuelle Kunst, für die Sparte Musik sowie für die Sparten Literatur, Tanz, Theater und Film. Den Vorsitz der Jury hat jeweils eine der beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Kulturamts inne; die Juryvorsitzende ist aber nicht stimmberechtigt.

Blicken wir konkret auf den Prozess: Wie läuft die Jurierung bei den Förderbeiträgen ab?

Die drei Fachgruppen Visuelle Kunst, Musik sowie Literatur, Tanz, Theater und Film sichten die ihren Sparten zugeteilten Gesuche und beurteilen, was die interessanten Positionen in diesem Jahr sein könnten. Diese Auswahl wird dann ins Plenum mit der Gesamtjury gebracht, um die sechs Beitragsempfänger:innen zu bestimmen. Folgende Kriterien werden im Plenum angesetzt: Erstens die Qualität und die Kontinuität des bisherigen künstlerischen Schaffens. Zweitens das Entwicklungspotenzial einer Person sowie die dargelegten Zielsetzungen und Vorhaben. Und drittens: Ist es in der Karriere eines Kunstschaffenden der richtige Zeitpunkt der Förderung, damit er oder sie sich entwickeln kann? Dabei sind die Kriterien als gleichwertig zu betrachten, denn im Zentrum der Förderung steht die persönliche Weiterentwicklung eines Kulturschaffenden. Deshalb schauen wir sehr genau, ob wir dem Dossier ein Ziel entnehmen können, das uns für den nächsten Karriereschritt plausibel erscheint und das wir mit einem Förderbeitrag unterstützen können.

Schauen wir noch einmal auf die quantitativen Ergebnisse meiner Untersuchung: Die meisten Förderungen erhielten demnach die Dreissigjährigen (12), gefolgt von den Vierzigjährigen (9), gefolgt von den 20-Jährigen mit 6. Zwei 50-Jährige und ein 60-Jähriger erhielten die Förderung. Was sind die Gründe für die vermehrte Förderung von 30-Jährigen?

Im Prinzip gilt, wie überall im Berufsleben: Zwischen 30 und 40 gelangt man in der Regel an einen Punkt, an dem man seine Karriere weiterentwickeln möchte. Das ist bei den Kunstschaffenden ähnlich, dass sie auf einen bestimmten Erfahrungsschatz der vergangenen 10, 15, 20 Berufsjahre zurückblicken und sich fragen, wie sie weitermachen möchten. Entsprechend setzen sie sich ein Vorhaben. Bei den Jüngeren ist es so, dass sie oft direkt vom Studium kommen und sich beruflich erst festigen müssen. Auch da gibt es manchmal Gesuche, die von grosser Klarheit bezüglich der inhaltlichen Richtung sind und für uns vielversprechend klingen. Aber im mittleren Alter werden vermehrt Gesuche eingegeben, bei den über 60-Jährigen sind es deutlich weniger als in der mittleren Altersgruppe.

 

Das eine Kriterium wäre demnach die Zahl der Gesuche einer Altersgruppe, das andere, wie gesagt, ob ein wichtiger Karriereschritt ansteht. Was hat mehr Gewicht?

Das künstlerische Vorhaben ist immer ausschlaggebend. Die künstlerische Weiterentwicklung steht im Vordergrund unserer Förderung. Der Zeitpunkt einer Förderung ist wichtig und wird entsprechend intensiv diskutiert, da wir nur sechs Preise zu vergeben haben – bei über 60 Bewerbungen.

Welche Erklärung haben Sie dafür, dass nur ein Drittel der im Thurgau Gebürtigen noch hier lebt, die übrigen vor allem in anderen Schweizer Kantonen?

Der eine Grund ist vermutlich, dass wir keine Hochschule für Kunst haben. Ein weiteres Motiv ist, dass es heutzutage üblich ist, sich beruflich über Grenzen hinauszubewegen, um neue Erfahrungen zu sammeln. Das galt und gilt für Kulturschaffende im Besonderen. Sie suchen Inspiration auch an anderen Orten – das ist wichtig und erscheint mir logisch.

Manche Kunstschaffende tun sich schwer mit dem schriftlichen Formulieren ihrer Arbeit.

Das ist unter Umständen schwierig. Aber wenn man die Idee im Dossier nachvollziehen kann, dann reicht das. Wir verlangen kein literarisches Werk. Auch über die Form kann man sich bei uns beraten lassen.

 

Weiterlesen: Im Rahmen der qualitativen Recherche folgen in den nächsten Tagen Interviews mit einzelnen Kulturschaffenden über ihre Erfahrungen mit der Kulturförderung. Zu Wort kommen die bildenden Künstlerinnen Isabelle Krieg und Lina Maria Sommer sowie die Musiker David Lang und Christoph Luchsinger.

Der Recherchefonds und diese Recherche

Der Kanton ist mit Kulturamt, Kulturpools und Kulturstiftung in der glücklichen Lage dreier Förderstellen in öffentlicher Hand. Um einen Baustein für mehr Übersichtlichkeit bei der Vergabe zu liefern, haben wir von thurgaukultur das Gefäss der personenbezogenen Förderbeiträge unter die Lupe genommen. Es handelt sich um Leistungen für die persönliche und künstlerische Weiterentwicklung von Thurgauer Kulturschaffenden. Die jährlich sechs Vergaben sind mit je 25'000 Franken dotiert. Mithilfe einer statistischen Auswertung der Beitragsempfangenden im Hinblick auf Geschlecht, Alter und Sparte liefern wir neue Hintergründe.

 

Diese Beiträge zur Kulturförderung sind entstanden im Rahmen unseres Recherchefonds. Zum 15. Geburtstag von thurgaukultur.ch haben wir im Mai 2024 einen Jubiläums-Recherchefonds initiiert, um bislang unterbelichtete Themen unter die Lupe nehmen zu können. Unter dem Titel „15 Jahre, 15 Geschichten“ sollen tief recherchierte Beiträge zu verschiedenen Themenfeldern des Thurgauer Kulturlebens entstehen. Alle Beiträge werden in einem Dossier gebündelt. Der Recherchefonds wird unterstützt von der Stiftung für Medienvielfalt und der Crescere Stiftung Thurgau.

 

Bewerbunbgen für weitere Recherchen sind jederzeit per Mail an redaktion@thurgaukultur.ch möglich

Mehr zur aktuellen Ausschreibung der Förderbeiträge

Wozu dienen die Förderbeiträge? Die Beiträge sollen – im Sinne eines Stipendiums – einen persönlichen und künstlerischen Entwicklungsschritt ermöglichen sowie Freiraum schaffen für eine gezielte Vertiefung oder Erweiterung der künstlerischen Kompetenzen. Sie werden an Künstlerinnen und Künstler ausgerichtet, die durch ihren Leistungsausweis und ihr Potenzial überzeugen und konkrete Zielsetzungen und Pläne für ihre künftige Tätigkeit darlegen können.

 

Wer kann sich bewerben? Um einen Förderbeitrag bewerben können sich professionell tätige Kulturschaffende aller Sparten, die ihren Wohnsitz im Thurgau haben oder einen engen Bezug zum Kanton aufweisen.

 

Wer entscheidet über die Vergabe? In einem zweistufigen Verfahren entscheidet eine Jury bestehend aus den Fachexpertinnen und Fachexperten des Kulturamts und weiteren Fachpersonen über die einzelnen Anträge. Bei der Vergabe der Beiträge werden verschiedene Sparten berücksichtigt. Die Förderbeiträge werden an einer öffentlichen Veranstaltung am 1. Juli 2026 überreicht.

 

Wo kann man sich bewerben? Die Ausschreibungsunterlagen können auf der Homepage www.kulturamt.tg.ch abgerufen werden. Eingabeschluss ist der 15. Januar 2026.

 

 

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