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von Jeremias Heppeler, 12.04.2019

Kammerflimmern

Kammerflimmern
Bedrückende Installation: Dominic Neuwirths «Topologie einer Geometrie der Leere» ist eine Arbeit in der neuen Gruppenausstellung «Zellenleben». Im Hintergrund Arbeiten von Judith Albert und Beat Streuli. | © Jeremias Heppeler

Wohnzelle. Biologische Zelle. Terroristische Zelle. Das Wort „Zelle“ kann vieles meinen. Eine neue Gruppenausstellung im Kunstraum Kreuzlingen geht auf eine verblüffende Forschungsreise.

Mitte der 20er Jahre des 6. Jahrhundert wird der römische Gelehrte Boethius verhaftet und zum Tode verurteilt. Boethius ist ein Alleskönner, gleichermassen Theologe, Philosoph und Politiker, der in seiner Freizeit Logik, Mathematik und Musiktheorie übersetzt und der unter der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theodrich steile Karriere macht. Als er unschuldig unter den Verdacht gerät, eine Verschwörung gegen die Ostgoten zu planen, sperrt Theodrich seinen Hochleistungsdenker in ein dunkles Loch.

Doch die Mauern der Gefängniszelle schränken Boethius nur körperlich ein. In der Gefangenschaft verfasst er sein Hauptwerk „Der Trost der Philosophie“, in dem sich der Gefange mit der in einer Frauenfigur personifizierten Philosophie unterhält – ein derart fruchtbarer Dialog, das er die ob ihrer Gefangenschaft krank und lethargisch gewordene Autorfigur zu heilen vermag. Der ultimativ beschränkte Raum der Zelle reift zum Imaginationskatalysator.  Kurz nach Abfassung seines Opus Magnum wird Boethius hingerichtet.

„Der Trost der Philosophie“ aber überlebt die Jahrhunderte: Um das Jahr 1000 übersetzt Notker der Deutsche das Werk in St. Gallen ins Althochdeutsche. In der Folge wird das Bild des Gelehrten im Dialog mit der Philosophie unzählige Male in den Schreibwerkstätten des Mittelalters inszeniert und reproduziert. Mit ebendiesen Abbildern von Boethius Isolationshaft beschäftigt sich gegenwärtig der deutsche Philosoph und Medienwissenschaftler Nils Röller an der Zürcher Akademie der Künste -  und wählte hierfür einen faszinierenden, die Medienzgrenzen verwischenden Ansatz.

Einblick in die Ausstellung mit Arbeiten von Judith Albert (links) und Beat Streuli (rechts). Bild: Jeremias Heppeler

Eine neue Allianz zwischen Wissenschaft und Kunst

Röller nämlich, dessen Forschungsprojekt mit dem Titel „Ikonografie der Philosophie“ betitelt und vom Schweizer Nationalfonds SNF finanziert wird, öffnete den Diskurs nach aussen und initiierte auf der Suche nach neuen Blickwinkeln eine Allianz zwischen Wissenschaft und Kunst. Fünf Künstler hat Röller dazu angehalten, ihre Gedanken zum offenen Themenfeld „Zellen“ intermedial auszuformulieren. Der Ausgangspunkt Boethius wabert zwar als hinterlegtes Wissen mit, Kurator Röller warf aber nur das Wort „Zelle“ in die wuselnde Gedanken- und Löwengrube. Wobei „nur“, das werden wir gleich sehen, als eine beinahe ketzerische Untertreibung erscheint.  Die Ergebnisse der nachfolgenden Arbeitsphasen sind nun im Kunstraum Kreuzlingen in einer bemerkenswerten Gruppenausstellung mit dem Titel „Zellenleben“ zu entdecken.

Der verhandelte Diskurs eröffnet aufgrund der dem Wort „Zelle“ injizierten semantischen Doppellungen ein allumfassendes Feld der Verweise. Klar, zunächst denken wir an die Gefängniszelle, einen abgeschlossenen, zutiefst menschlichen Raum. Dann aber beginnt das Bedeutungsrattern. Wir denken an terroristische Zellen. An Wohnzellen. An Gewerbezellen. Und an die biologische Zelle, die kleinste lebende Einheit aller Organismen. So klein. Und doch so gross. So allumfassend. Wenn wir über Zellen nachdenken, dann tanzt der Mikrokosmos mit dem Makrokosmos eine liegende Acht. Ein Endpunkt jedenfalls ist kaum auszumachen.

Zwischen den Arbeiten bleibt Platz zum Atmen. Und zum Weiterdenken.

Umso erfrischender erscheint es, dass Röllers Ausstellung so konzentriert daher kommt. Die fünf künstlerischen Positionen im Ausstellungsraum bekommen allesamt ihren Platz, die Ausstellungsmacher widerstanden der aufdringlichen Versuchung den Kunstraum durch weitverzweigte Systemanalysen zu überladen. Spoiler: Foucaults allgegenwärtige Überwachsungssysteme spielen beim Blick in die einzelnen Zellen weder auf erster noch auf zweiter Ebene eine entscheidende Rolle! So bleibt zwischen den einzelnen Arbeiten Platz zum Atmen, vor allem aber zur Imagination. Zum Weiterdenken. Zum Fadenschlagen. Zum Widersprechen. Zum Verordnen und Zerordnen.

Ins Auge stechen zunächst die Fotografien von Beat Streuli, aufgezogen auf massive Papierwände. Streuli spürte zuletzt Stadtstrukturen in Pnom Penh, Cotonou, Zürich, Tanger, Istanbul und Hongkong nach, durch eine gezielte Collagierung reifen die verzahnten Oberflächen der Hochhäuser zum globalen Zellnetz, zur Mensch-gemachten Musterung des Planeten. Jso Maeder indes wählt ein verschachteltes Kleinstformat: In einer Art Zettelkasten sollen wir in Fragmenten wühlen, aufgedruckt auf 24 Tafeln und Folien, eine Art Anti-Archiv. Eine fast zärtliche Arbeit, welche die Brücke zur Wissenschaft als Luhmannsches Zitatsystem zurück schlägt.

Der Zettelkasten von Jso Maeder. Bild: Jeremias Heppeler

 

Ungleich martialischer erscheint Dominic Neuwirths „Topologie einer Geometrie der Leere“, eine bedrückende Installation, in der Subjekt und Objekt, Innen und Aussen verschwimmen und dann eben doch in Form eines gequält gekrümmten Kokons zusammen gebunden werden. Erst in den umrahmenden Arbeiten von Judith Albert und Barbara Ellmerer gelingt dann der Ausbruch, ja die Sprengung der Zelle. Albert zeigt eine Video-Kleinstbeobachtung aus London: Ein blaues Samtuch fliesst wie von Geisterhand unter einer vergitterten Tür hervor und entwickelt dabei so einen „American Beauty“-mässigen Kitsch des Alltags. Ellmerer indes übersetzt Partikelprotokolle von Zellorganellen in vier ausufernde, ja energetische Ölgemälde. Der Zoom wird hier um taktgebenden Dimensionenverschieber.

Im Tiefparterre wartet ein weiteres Ausstellungsexperiment

In der Kombination und Vermischung der Medien, im Verrühren von geisteswissenschaftlicher Forschung und den intuitiven künstlerischen Vermengungen entsteht eine Art Kammerflimmern, das Röller im Gespräch als „Diskursraum“ kennzeichnet. Und an der Stelle wird klar, dass die Kunst hier eben nicht zum Handlanger der Forschung wird, sondern das es zu wechselseitigen Kommentarbeziehungen kommt. Und ebendiesen Unterbau hat die Kunst, die uns sooft zum blossen visuellen Spielplatz verkommt, bitterst nötig.
 
Doch auch der Kunstraum, und das ist seine entscheidende, weil verborgene Eigenheit, wuchert einer Zellstruktur gleich in die dritte Dimension. Nach unten. In den Keller. Tiefparterre. Parallel zum "Zellenleben" entstand dort das Ausstellungsexperiment "Rest Or Stay" von Marianne Halter und Mario Marchisella. Und in einer unaufdringlichen Verzahnung der Konzepte gelang es Kunstraum-Kurator Richard Tisserand einmal mehr Keller und Cube mindestens theoretisch zu vernähen. Mehr noch: "Rest Or Stay", eine zerstückelte Raumreflexion am Beispiel des explizit Japanischen, würde für den Unwissenden wohl problemlos als weiteres Zellenkapitel durchgehen. Dabei ist die Arbeit unabhängig von Röllers «Zellenleben» entstanden. Gegenseitige Bezüge sind trotzdem möglich.

Auf der Wand des Kellers sehen wir projizierte Parkhauseinfahrten, halbhoch verhängt zum Schutze des autofahrenden Antlitz. In der Mitte dann der Zellkern. Ein Nicht-Raum und Schutzraum, eine nachgebildete Karaoke-Bar, auch hier die Vorhänge, die uns zunächst vorm eintreten abhalten. Dann aber lockt uns "Love Me Tender", wie Bienen in den klebrigen Blütenkelch. Ein Unbekannter im Anzug singt alleine den Elvis-Hit, herausgeputzt für den grossen Auftritt, aber alleine, verlassen in der Zelle. Fast so wie Boethius.

Termine: Die beiden Ausstellungen werden am Freitag, 12. April, eröffnet. Sie ist bis zum 19. Mai zu sehen. Geöffnet Fr 15 – 20 Uhr; Sa / So 13 – 17 Uhr. Eintritt gratis

«Love me tender» in einer speziellen Version. Arbeit von Marianne Halter und Mario Marchisella. Bild: Jeremias Heppeler
Titelgebende Installation der Ausstellung im Tiefparterre. Bild: Jeremias Heppeler

 

 

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