Seite vorlesen

Wie ein Tor in eine andere Welt

Wie ein Tor in eine andere Welt

Gilles Jobin gilt als einer der innovativsten Choreografen Europas. Jetzt kommt der Genfer mit einem atemberaubenden Virtual-Reality-Projekt in den Thurgau

Von Michael Lünstroth

Plötzlich eröffnet sich eine ganz neue Welt. Die Sonne steht hoch am blau-weissen Himmel, in der Ferne türmen sich riesige, rote Felsformationen auf und dazwischen laufen riesenhafte Menschen in futuristischen Anzügen in einer Wüstenlandschaft umher. Es muss heiss sein hier. Das ist freilich das einzige, was man nicht wirklich spürt. Denn das ist nicht real, das ist nur die virtuelle Realität. Es ist die Eröffnungssequenz eines 3D-Films, in den man als Zuschauer regelrecht eintauchen kann. „VR_I“, heisst er und ist eine Mischung aus überwältigender Raumerfahrung und Tanzchoreografie. Der Schöpfer dahinter ist der Genfer Choreograf Gilles Jobin. Gemeinsam mit dem Genfer Tech-Start-up Artanim hat er diese begehbare künstliche Welt erschaffen. Gerade erst war Jobin mit dem Film auf dem Sundance-Festival in den USA, zuvor hatte er bei einem anderen Filmfestival in Montreal (Kanada) zwei Preise gewonnen. Jetzt kommt „VR_I“ auch in den Thurgau: Im Rahmen des Festivals „tanz:now“ gastiert Jobin am 17. und 18. März mit seiner virtuellen Compagnie im Steckborner Phönixtheater.

„Der Film ist ein Versuchslabor, eine Mischung aus Performance und Installation“, sagt Gilles Jobin im Gespräch mit thurgaukultur.ch Fünf Menschen können gleichzeitig in die 20 Minuten dauernde Inszenierung eintauchen. Alles was sie dafür brauchen ist eine 3D-Brille und einen Rucksack mit der gesamten Technik. Damit können sie sich dann frei auf einer Fläche von 8 mal 5 Metern bewegen, im Raum miteinander interagieren und einer virtuellen Compagnie bei einer Choreografie zuschauen. Auf YouTube gibt es ein Video (siehe unten), das Menschen zeigt, die das Experiment wagen. Nimmt man ihre Reaktionen zum Massstab, dann muss „VR_I“ eine aussergewöhnliche Erfahrung sein. „Diese Technologie ist das Tor zu einer anderen Welt. Ich vergleich das immer mit Tiefseetauchen, da besuchen die Menschen auch Welten, die sie ohne die entsprechende Technik niemals erleben würden“, schwärmt Gilles Jobin. 

Der Kopf hinter dem Projekt: Choreograf Gilles Jobin. Bild: Magali Girardin

Video: Trailer zu "VR_I"

Die Vorbereitungen für das Projekt waren aufwändig. Im so genannten „Captured-Motion“-Verfahren wurden sämtliche Körperbewegungen aufgenommen und so erfasst, dass sie für einen Computer lesbar werden. Das ermöglichte es erst, dass sich die Zuschauer jetzt in dem Stück bewegen und sie ihre Bewegungen auch in der virtuellen Realität beobachten können. „Für einen Choreografen ist diese Technik wie ein wahr gewordener Traum. Man kann machen, was immer man will. Mit Grössen spielen, unterschiedliche Perspektiven einbauen, Effekte einsetzen, das Setting unmittelbar verändern. Es gibt quasi nichts, was man nicht machen könnte“, erklärt der Genfer Jobin. Für ihn ist „VR_I“ der erste Film, den er in diesem Format gedreht hat. Weitere sollen folgen. Jobin ist fasziniert von der Technik.

Jobin gilt als analytischer Künstler und radikaler Zeitgenosse

Dass ausgerechnet er es ist, der hier Pionierarbeit leistet, ist nicht verwunderlich. Der 54-Jährige gilt als einer der innovativsten Choreografen Europas. 2015 erhielt er den Schweizer Grand Prix Tanz vom Bundeskulturamt. Jurypräsidentin Esther Sutter lobte damals: „Er hat den zeitgenössischen Tanz revolutioniert (…) Jobin hat den Körper dekonstruiert, ihn zergliedert, um ihn Stück für Stück neu - und dabei höchst organisch - aufzubauen. (…) Gilles Jobin ist ein leidenschaftlicher Forscher, ein analytischer Künstler und ein radikaler Zeitgenosse“. 

Der Genfer, Sohn eines abstrakten Malers, hat relativ spät zum Tanz gefunden, hat sich erst als Schauspieler und Techniker probiert. „Mich haben schon immer alle Aspekte des Showgeschäfts interessiert, deshalb habe ich viel versucht“, so Jobin. Irgendwann, Jobin war Anfang 20, war ihm aber klar, dass der Tanz das ist, was ihn am meisten fasziniert: „Tanz ist nicht so intellektuell wie Schauspielerei und viel unmittelbarer. Als Tänzer bist du auf der Bühne kein Charakter. Du bist du. Und lässt Deinen Körper sprechen“, sagt Jobin. Zehn Jahre lang arbeitet er ausschliesslich als Tänzer, ab 1995 kreiert er erste eigene Choreografien. „Kritische Reflexion und Mut zur Innovation sind die Essenzen von Jobins Schaffen“, heisst es in der Begründung zur Verleihung des Grand Prix Tanz 2015. Was ihm am Tanz so gefallen hat, beschreibt der 54-Jährige selbst so: „Ich mochte immer dass es abstrakt und konkret zugleich ist: Die Ideen, die wir auf die Bühne bringen sind abstrakt, die Körper aber sind sehr konkret.“

Brille auf, Rucksack auf und los geht's: So können die Zuschauer bei "VR_I" miteinander interagieren. Bild: Cie Gilles Jobin

Es geht nicht nur um eine Technikspielerei, es geht um mehr

Bei allem Faible für die Technologie mit der er jetzt „VR_I“ geschaffen hat, Jobin geht es um mehr. Ihn interessieren die grundlegende Fragen: „Was bewirkt die Welt für mich? Wie positioniere ich mich in der Welt? Ich interessiere mich für die verschiedenen Aspekte des Körpers: der manipulierte Körper, der hospitalisierte Körper oder der Körper in Beziehung zu Raum und Materie“, sagt Jobin. Da war es fast zwangsläufig, dass er irgendwann in virtuellen Welten landen würde. Denn dort kann er seinen Gedanken und Ideen noch mehr Raum geben und sie so wachsen lassen, wie es in der Realität nicht möglich wäre. Was die Zuschauer am Ende daraus machen, überlässt er weiterhin ihnen. Er gebe keine Deutungen vor, das passiere alles im Kopf des Betrachters, meint der Choreograf. Zumindest hier gibt es offenbar keinen Unterschied zwischen virtuellen und realen Welten.

 

So kommt man an Tickets 

Die Tickets: Wer in die Welten von Gilles Jobin eintauchen will, muss an den beiden Spieltagen 17. und 18. März einen festen Starttermin ausmachen. Das geht über das Terminkoordinierungs-Tool Doodle, hier kann man seinen Wunschtermin registrieren: https://doodle.com/poll/9vsmbzgshpcp9b4t An beiden Tagen gibt es Vorführungen zwischen 14 und 19 Uhr. Pro Vorführung können 5 Zuschauer teilnehmen. Man muss 40 Minuten Zeit einplanen. 20 Minuten für Vorbereitung und Instruktion, 20 Minuten dauert die Inszenierung. Eintritt: 25 Franken. 

 

Das Projekt: Mehr zum Projekt "VR_I": http://www.vr-i.space 

 

Der Macher: Mehr zu Gilles Jobin: http://www.gillesjobin.com 

 

Das Festival: Mehr zum kompletten Programm des Festival "tanz:now" gibt es hier: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3491/ 

 

Bilder aus der Produktion "VR_I" (Quelle: alle Cie Gilles Jobin)

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Bühne

Kommt vor in diesen Interessen

  • Vorschau
  • Tanz

Werbung

„Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“

Wie ist es im Kanton für junge Musiker:innen? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen!

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

Eine verschleierte Königin

Einblicke ins Leben der Künstlerin Eva Wipf: Hier geht's zu unserer Besprechung der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau.

Was bedeutet es heute Künstler:in zu sein?

In unserer Serie «Mein Leben als Künstler:in» geben dir acht Thurgauer Kulturschaffende vielfältige Einblicke!

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

#Kultursplitter im November/Dezember

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

Kultur für Klein & Gross #22

Unser Newsletter mit den kulturellen Angeboten für Kinder und Familien im Thurgau und den angrenzenden Regionen bis Ende Januar 2025.

«Kultur trifft Politik» N°I

Weg, von der klassischen Podiumsdiskussion, hin zum Austausch und zur Begegnung. Bei der ersten Ausgabe am Mittwoch, 27. November geht es um das Thema "Räume".

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

Ähnliche Beiträge

Bühne

Problemfamilie mit Wiedererkennungswert

Die Eigenproduktion „Familienidylle“ des theagovia theater zeigt eine Familie im Ausnahmezustand, der vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. mehr

Bühne

«Ich will auch nicht immer in den Abgrund schauen.»

Die Schauspielerin und Produzentin Susanne Odermatt hat sich in den vergangenen Jahren als Spezialistin für Dramen einen Namen gemacht. Jetzt bringt sie eine Komödie auf die Bühne. mehr

Bühne

Raum ist in der kleinsten Scheune

Der Lengwiler Verein für Kulturveranstaltungen «Plan BBB» erweitert sein Programm. Statt den ursprünglichen Zutaten «Band, Boxen, Bier» durfte Micha Stuhlmann die Scheune für eine Performance nutzen. mehr