von Brigitta Hochuli, 23.07.2015
Woher kommen die Sidiane?

Brigitta Hochuli
Ein sommerliches Frühstück mit Freunden. Warum auf einmal das Wort Sidian fällt, bleibt uns verschlossen. Aber die Suche nach dessen Bedeutung findet eine Fortsetzung unter anderem auf der Facebookseite des Libelle-Verlegers Ekkehard Faude aus Lengwil. Die regionalen Unterschiede verblüffen.
Unlenkbares KInd oder...
Sind Max und Moritz Sidiane? Wenn es nach Faude geht, schon. „Wir fragten uns, was das Wort Sidian bedeute“, notiert er. „Ein Wort aus der Konstanzer Kindheit, von erzürnten Eltern verwendet für unlenkbare Kinder.“ Auf Nachfrage ergänzt er: „Bei uns war‘s ein Wort unserer sehr lieben Oma, aber immer bezogen auf Kinder oder kleine Menschen.“ Sie habe es halb vorwurfsvoll, halb stolz verwendet, für ein besonders aktives, unfolgsames aber halt lebendiges Kind.
Ekkehard Faudes Grossmutter kam aus einem schwäbischen Dorf, sei aber Dienstmädchen bei besseren Leuten in Basel gewesen. In einem pfälzischen Wörterbuch finde sich für den sidianischen „frechen Kerl“ zudem die Herleitung aus einem verballhornten französischen Citoyen, was die revolutionsbewussten Franzosen nicht eben amüsiert haben dürfte.
... störrische Kuh?
Ich selber bin sprachlich von Solothurnischem und Welschländischem geprägt. Bei uns war der Sidian eine männliche Autoritiätsperson, die nicht nur ihre Wortmacht missbrauchte. Dem kommt auch die Erinnerung des Bodmanhaus-Programmleiters in Gottlieben nahe. Stefan Keller, aufgewachsen im thurgauischen Heimenhofen, kannte das Wort in der Kombination "Sidians-Siech". Störrische Kühe seien so bezeichnet worden. "Die Leute, bei denen ich das Wort hörte, waren eingewanderte Berner Bauern der zweiten Generation am Seerücken."
Im SRF-Schnabelweid-Briefkasten beantwortete 2012 Markus Gasser die Frage nach dem Sidian so: Der Ausdruck werde für verleumderische oder boshafte Menschen gebraucht, für Säufer, Strolche, hinterlistige und durchtriebene Kerle. Er könne aber auch Bewunderung ausdrücken. So stehe im Idiotikon als Beispiel folgender Satz von 1904: "Dä chäibe Sidian! Dä weiss d Sach azstelle."
In Bern widerwillig anerkannt
Von der Pfalz bis in die Westschweiz wird der Sidian langsam erwachsen. Dazwischen liegt der Kanton Bern. Dort ist der Linguistikprofessor Urs Egli aufgewachsen, der an der Universität in Konstanz lehrte und in Kreuzlingen lebt.
In seinem persönlichen Dialekt des Berndeutschen existiere der Sidian durchaus. Er sei Teil einer kleinen Serie von Wörtern, zu denen auch Siech und Sebulon gehörten. „Sidian“ drücke Missbilligung, aber unter Umständen auch eine widerwillige Anerkennung aus. Die Etymologie mit Französisch Citoyen sei nicht ganz unmöglich, denn es gebe verballhornte Ausdrücke aus dem Französischen auch sonst im Berndeutschen. „Semantisch würde es eine bestimmte Distanz der einfachen Leute ausgedrückt haben gegen die neue Soziologie und Politik, die aus Frankreich und von der neuen Ordnung nach dem Ancien Régime kam.“
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Ob Max und Moritz als Erwachsene zu bösen Sidianen geworden wären, weiss ich natürlich nicht. Aber eins steht fest: Als Sidiane sind mir weder Mädchen noch Frauen bekannt.
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Ekkehard Faude auf Facebook
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