Von Türen, Zimmern und Geistern
Erst kürzlich hat die Schweizer Autorin Gianna Olinda Cadonau im Literaturhaus Thurgau aus ihrem mit dem Studer/Ganz-Preis ausgezeichneten Buch «Feuerlilie» gelesen. Es ist der erste Roman der 1983 in Indien geborenen und mittlerweile in Chur lebenden Schriftstellerin. Im Oktober stand der Roman auf Platz 5 der SRF-Bestenliste. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
«Feuerlilie» spielt vor der Kulisse der Bündner Berge, in einem kleinen abgelegenen Dorf, in dem drei Menschen aufeinandertreffen und sich nach und nach über ihre Leben austauschen. Man teilt Erinnerungen, lässt Nähe zu. Frühere traumatische Erlebnisse werden offenkundig. Alte Wunden klaffen auf. Vor allem Türen und Zimmern kommt beim Umgang mit den Traumata eine besondere Bedeutung zu, bieten sie doch Möglichkeiten, die unschönen Erinnerungen in wirkliche und unwirkliche Räume zu verfrachten und sie damit vorerst wegzusperren.
Gianna Olinda Cadonau wuchs selbst im Engadin auf und schreibt sowohl Lyrik wie Prosa in Romanisch und Deutsch. Bisher liegen von ihr zwei Gedichtbände vor. Dass sie Lyrikerin ist und somit Texte verdichten kann, spürt man bei der Lektüre deutlich: Ihr im August im Lenos Verlag erschienene Roman ist auch ein eher schmaler Band, der sich vor allem durch seine poetische Sprache und atmosphärische Dichte auszeichnet.
Gianna Olinda Cadonau liest aus «Feuerlilie»:
Abwechselnd wird aus der Perspektive dreier Figuren erzählt: aus der Sicht zweier Schwestern, Vera und Sophia, sowie der dritten Person, Kálmán. Übersetzt bedeutet Kálmán so viel wie «Überlebender». Bereits auf der ersten Seite des Buches wird uns dieser «Überlebende» aus Sicht der jungen Journalistin Vera geschildert:
«Seine Haut ist hellbraun, die Wimpern ziemlich dicht, kein Bart. Eine dünne Narbe zieht sich über seine rechte Wange, durchschneidet seine rechte Augenbraue und verschwindet in der Mitte der Stirn, kurz vor dem Haaransatz.»
Die Suche nach der Ruhe
Im weiteren Verlauf der Geschichte lernen wir den Handlungsort kennen: ein kleines Bergdorf. Cadonau verortet dort das Elternhaus der beiden Schwestern sowie das geerbte Haus des zugezogenen Kálmán, von dem wir bis zum Ende nicht erfahren, aus welcher Gegend der Welt er stammt. Vera ist im Dorf mit ihrer Schwester aufgewachsen, kennt den Ort also gut und sehnt sich hier nach Ruhe und Konzentration, um an einem Schreibprojekt arbeiten zu können. Kálmán, ein eher stiller und zögerlicher Mensch, vom Krieg gezeichnet und bisher in einer Stadt wohnend, sucht ebenfalls Ruhe und Abstand, aber nicht, um an etwas Konkretem zu arbeiten, sondern um sich von seinen schweren Kriegstraumata zu befreien. Seine Erinnerungen an früher versucht er dabei, in die leeren Zimmer des Hauses zu sperren und damit zu bannen. Im Text heisst es:
«Ich gehe hinaus auf den Flur. Auch hier ist es still, nichts Beunruhigendes ist da. Die Stubentür ist angelehnt. Die zwei Türen gegenüber sind zu. Nichts dringt heraus. Immer dasselbe, ich stehe irgendwo in diesem Haus und starre Türen an. Wäge ab, in welches Zimmer ich hineinkann, in welches ich als Nächstes hineinmuss, welches dran ist und welches noch warten kann. Noch komme ich nirgends unbeschadet wieder raus. Aber ich habe Zeit. Nur deshalb bin ich hergekommen.»
Mit der Zeit freunden sich Vera und Kálmán an, besuchen sich in ihren Häusern, spazieren gemeinsam durch das Dorf. Es ist ein langsames und vorsichtiges Herantasten an den jeweils anderen. Kálmáns Schritte an diesem fremden Ort sind eher zögerlich und tastend. Bald schon erfährt man, dass er als Ersatz für seine Füsse Prothesen trägt. Etliche Andeutungen seinerseits legen nahe, wie sehr er vom Krieg gezeichnet ist – dies nicht nur als Opfer, sondern gleichfalls als Täter.
Ganz eigene Ästhetik
Cadonau verfügt über ein sehr feines Gespür für Charaktere und Stimmungen, weiss genau, wie man durch Leerstellen im Text die Leserschaft zu einem Weiterdenken animiert, wie man Themen verdichtet und Spannung erzeugt. Ihre fein hingetupften – mitunter traumwandlerischen – Bilderwelten erzeugen zudem eine ganz eigene Ästhetik.Parallel zu den Lebensgeschichten von Vera und Kálmán erfährt man von der Leidensgeschichte Sophias. Psychisch instabil lebt sie ein Leben zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit. Während Vera im Elternhaus ihrer journalistischen Arbeit nachgeht, befindet sich Sophia in einer nahe gelegenen psychiatrischen Klinik. Wie Kálmán kämpft auch Sophia mit ihren wahnhaften Vorstellungen und sucht dabei nach Wegen, die sie zu etwas anderem hinbringen, ihr möglicherweise eine Rettung bieten, einen Ausweg, einen neuen Ort, eine neue Landschaft:
«Ich bin sicher, ich muss dahinein, in diese Landschaft. Da drin ist etwas. Etwas, was mich zur nächsten Tür führt. Vielleicht ist die nächste Tür in dieser Landschaft, oder aber die Landschaft selbst ist die Tür. Die Türen sehen nicht immer aus wie Türen. Das weiss ich. Nur, wie komme ich durch diese Scheibe? Vielleicht kann ich sie einfach aufschieben oder eindrücken. Sie fühlt sich kühl an.»
Bei einem ihrer Besuche erzählt Vera ihrer Schwester von Kálmán. Und so erfährt auch sie von seinen inneren und äusseren Kämpfen, von geschlossenen und offenen Türen. Sophia will diesen wortkargen Menschen kennenlernen, will helfen, fühlt sich ihm auf eine besondere Weise verbunden. Und so entsteht nach einem ersten Kennenlernen eine Freundschaft zu dritt, die sogar so weit geht, dass man gemeinsam versucht, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen und über sie hinauszugehen. Vor allem die beiden Schwestern übernehmen hierbei die Rolle einer Öffnung und Neuschreibung der engen – auch symbolisch aufgeladenen – Welt Kálmáns.
Geheimnisvoll verstrickte Geschichten
Geradezu zärtlich erzählt Cadonau die Geschichte dieser sehr unterschiedlichen Menschen, öffnet den Raum für ihre immer wieder ins traumhaft Fantastische hinübergleitenden Assoziationen. Dass Cadonau dabei mitunter zu viele poetische Sprachbilder hintereinander schaltet, tut dem Text nicht gut; vor allem dann nicht, wenn sie zu keinen weiteren neuen Erkenntnissen führen. Leicht überfrachtet wirkt der Roman auch aufgrund seiner starken Symbolik: Beispielsweise hätte man die in Kálmáns Wohnung herumstreunenden Raubkatzen nicht unbedingt gebraucht. Auch dass der Roman den Titel «Feuerlilie» trägt, bleibt bis zum Schluss ein ungelöstes Rätsel.
Gianna Olinda Cadonau hat mit ihrem ersten Roman etwas sehr Besonderes geschaffen: Selten liest man in der Schweizer Literatur derartig geheimnisvoll verstrickte, in der Sprache sowohl lakonisch als auch ausufernd bebilderte Geschichten. Selbst die vielen kleinen Dialoge im Buch funktionieren gut, wirken natürlich und kunstvoll zugleich. Dass «Feuerlilie» ein Debüt ist, merkt man dem Roman nicht an.
Fazit: eine klare Leseempfehlung.
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