von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 22.06.2021
Spaziertalks durch den Thurgau
Mit ihrem Projekt „Promenaden“ wollen Richard Tisserand und Reto Müller das Thurgauer Kultur-Netzwerk besser verknüpfen und neue Ideen daraus wachsen lassen. Gemeinsam mit dem Publikum und ohne die sonst üblichen Hierarchien. Damit gehen sie ins Finale des Kulturstiftung-Wettbewerbs „Ratartouille“ am 2. Juli. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Bei Kulturveranstaltungen ist es üblicherweise so: Man geht hin, hört zu, sieht zu, wenn es gut läuft spricht man anschliessend beim Apéro vielleicht noch mit dem einen oder anderen über das Erlebte, aber dann fährt jeder zu sich nach Hause, das Gefühl der Inspiration verflüchtigt sich manchmal bereits auf dem Heimweg.
Genau da wollen Richard Tisserand und Reto Müller mit ihrem Projekt „Promenaden“ ansetzen: Weg vom vereinzelten Einmal-Erlebnis, hin zum kollektiven Gemeinschafts-Erlebnis. „Ein multidisziplinäres, Generationen durchmischtes Publikum erschliesst, zeigt und verknüpft ihre Interessenfelder“, heisst es etwas kompliziert im Dossier zum Projekt, das Müller und Tisserand beim Kulturstiftungs-Wettbewerb «Ratartouille» eingereicht haben.
Den Thurgau besser und anders kennenlernen
Vereinfacht gesagt geht es bei „Promenaden“ darum bei gemeinsamen Ausflügen die kulturelle Landschaft des Thurgau besser kennenzulernen. Und vielleicht nicht nur besser, sondern auch anders als bisher. Weil das Projekt viele Disziplinen verknüpfen will: Kunst, Architektur, Geologie, Biologie, Literatur, Theater und alle anderen Spielarten des Menschheits-Wissens, die etwas zu einem bestimmten Thema zu sagen haben.
„Wir haben uns die Frage gestellt, was es im Thurgau eigentlich braucht? Wir finden, es sind nicht zwangsläufig neue Veranstaltungen, sondern eher Verbindungen aufzuzeigen zwischen dem, was es bereits gibt. Und daraus dann im Idealfall wieder etwas Neues entstehen zu lassen“, erklärt der Künstler Reto Müller die Idee hinter dem Projekt.
Willy Guhl, Hildegard Knef und Napoleon
Was genau das meint, versteht man am besten an einem konkreten Beispiel: Mit den Pontonieren von Stein am Rhein nach Rheinklingen fahren, am Lehmufer zwischenhalten, wo der Designer Willy Guhl in den 1950er Jahren nach der ergonomischen Form für seine Schlaufenstühle suchte, weiter zum Thurgauischen Rheinanstoss. Dann mit dem Schiff weiterfahren, vorbei an der Bibliothek Biebermühle, in deren Nähe soll einst Hildegard Knef gelebt haben. Und zum Abschluss vielleicht noch eine Wanderung auf den Rodenberg, von wo aus Napoleon die Rheinüberquerung im Fernrohr beobachtet haben soll. In etwa so stellen sich Tisserand und Müller eine Ausgabe ihrer Promenaden vor.
Jede Station soll das Thema neu deuten, anders deuten und so auf eine jeweils andere Weise inspirieren. Die wahre Promenade entsteht als Gedankenspaziergang im Kopf der BesucherInnen, die die Punkte zu eigenen Geschichten verbinden und sich darüber dann auch mit den anderen BesucherInnen austauschen können. „Das Projekt soll Kultur vermitteln, aber auch Verbindungen zwischen den TeilnehmerInnen schaffen und Begegnungen ermöglichen“, sagt Richard Tisserand. Schliesslich könne man nirgendwo so gut miteinander ins Gespräch kommen wie beim gemeinsamen Spaziergang, findet der Kurator.
Das Ziel: Schlauer rausgehen als man reingekommen ist
Die klassischen hierarchischen Veranstaltungs-Strukturen zwischen denen auf der Bühne einerseits und jenen vor der Bühne andererseits, wollen sie sprengen: ProtagonistInnen, Publikum - alles soll eins werden. Jeder kann sich mit seinem Wissen einbringen. „Ganz so wie es bei jedem anderen Ausflug auch ist, da fällt dem einen dies, der anderen das ein. Dinge dürfen auch aus dem Moment entstehen. Promenaden soll das Wissen aller TeilnehmerInnen bündeln, damit am Ende alle schlauer rausgehen als sie reingekommen sind“, sagt Reto Müller.
Das Publikum soll ohnehin eine besondere Rolle bekommen: „Ohne geht es ja auch sonst nicht, aber bei uns kommen die TeilnehmerInnen auch raus aus der Konsumentenrolle, sie werden viel stärker einbezogen und zu einem Teil des Ganzen, wenn sie mögen“, ergänzt Richard Tisserand.
Wenn es gut läuft, verselbstständigt sich die Idee irgendwann
Ihre Aufgaben sehen Tisserand und Müller vor allem als Zentrale eines neuen, sich stetig erweiternden Netzwerkes. „Wir schieben am Anfang Dinge an, stehen beratend zur Seite und sehen uns vor allem als Ermöglicher“, sagt Kunstraum-Kurator Richard Tisserand.
Drei verschiedene Veranstaltungsformate haben sie erdacht, in unterschiedlichen Beteiligungsgraden des federführenden Kuratoriums. Wenn es gut läuft, so sind die beiden überzeugt, läuft das Projekt irgendwann fast von alleine, weil das Netzwerk stabiler wird. In der Idealvorstellung wächst Promenaden mit jeder neuen Veranstaltung, schafft neue Verbindungen und die Kultur kommt quasi im Schneeballsystem über den Thurgau.
„Für Kulturschaffende entsteht so auch ein neues Werkzeug, in dem sie ihre Inhalte ganz anders transportieren und vermitteln können als in klassischen Ausstellungsformaten“, glaubt Reto Müller. „Promenaden“ soll viel näher ans Leben rücken als das im Museum oder der Galerie möglich ist.
Eine App soll zentrale Kommunikationsplattform werden
Zentrale Schaltstelle dafür soll eine App als Kommunikationsplattform werden: Hier kann man sich eine Übersicht verschaffen, was auf dem Programm steht und sich auch direkt für einzelne Angebote anmelden. Es soll zudem ein Tool geben, das Mitfahrgelegenheiten vermittelt, um den gemeinsamen spontanen kulturellen Ausflug zu fördern. „Das wird wie ein Kultur-Sammeltaxi, das ganz unabhängig vom Kuratorium und in Eigenregie aller Teilnehmerinnen funktionieren kann“, sagt Reto Müller. Und: Veranstalter sowie Kultur-Institutionen können vorhandene Programmpunkte um eigene Ideen ergänzen.
Das grosse Ziel des Projektes: Eine Kultur-Interessengemeinschaft im Thurgau zu bilden, die sich stetig verändert, offen bleibt für Neues und niemals stehen bleibt. „Am Anfang steht immer die Neugier. Was aus den einzelnen Ausflügen wird, liegt dann ganz in der Hand des Publikums“, ist Reto Müller überzeugt.
Ob das Publikum das auch überzeugt, zeigt sich am 2. Juli: Dann entscheiden ZuschauerInnen im Theaterhaus Thurgau darüber, ob aus den Gedanken-Spaziergängen auch ganz reale Spaziergänge werden. Wer mit abstimmen will: Interessierte können sich noch bis zum 25. Juni per E-Mail mit Angabe des Vornamens und Namens auf ratartouille@kulturstiftung.ch für eine Teilnahme anmelden.
Der Wettbewerb Ratartouille und die drei Finalisten
Mit der Ausschreibung des Wettbewerbs «Ratartouille» will die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ein neues Festival initiieren.
Ziel des neuen Formats ist es unter anderem, verschiedene Sparten wie Kunst, Musik, Theater, Tanz, Literatur, Fotografie miteinander zu verbinden und Kulturschaffende im und aus dem Thurgau mit weiteren AkteurInnen zu vernetzen. Für Stefan Wagner, Beauftragter der Kulturstiftung, ist das Modell auch ein Versuch, neue Wege in der Kulturförderung zu gehen. Denn: Erstmals wird auch das Publikum in den Entscheidungsprozess eingebunden. Nach einer Vorauswahl einer Fachjury soll das Publikum an einer Abendveranstaltung im Juli 2021 das letztliche Sieger-Projekt küren. „Mit diesem Ansatz wollen wir auch eine Diskussion über Kulturförderung insgesamt anstossen“, erklärt Stefan Wagner.
Nach einer ersten Vorauswahl hat sich die Jury im März für drei Projekte entschieden, die im Finale am 2. Juli gegeneinander antreten. Bei einer öffentlichen Veranstaltung im Theaterhaus Thurgau können die ZuschauerInnen über das Gewinnerprojekt entscheiden. Der Poetry-Slamer und Kulturvermittler Richi Küttel führt durch den Abend. Details zum Wahlverfahren sollen erst an der Publikumsveranstaltung bekannt gegeben werden.
Anmeldung fürs Finale: Wer dabei sein will: Interessierte können sich noch bis zum 25. Juni per E-Mail mit Angabe des Vornamens und Namens auf ratartouille@kulturstiftung.ch für eine Teilnahme anmelden. Übersteigt die Anzahl Anmeldungen die Platzzahl, werden die Plätze ausgelost. Die Kulturstiftung will rechtzeitig über die definitive Anmeldung informieren.
Neben dem oben beschriebenen Vorhaben „Promenaden“ sind die weiteren Bewerber:
In Egnach ist unter dem Namen „Kultur im Tankkeller“ ein grosses interdisziplinäres Festival in der alten Mosterei Egnach geplant. Von März bis Ende Mai 2022 soll es jeweils von Donnerstag bis Sonntag Auftrittmöglichkeiten für lokale Bands, Kleinkunst und familienfreundliche Unterhaltung ebenso geben wie Installationen, Performances, Lesungen und Konzerte internationaler KünstlerInnen. Mehr zum Projekt gibt es hier.
Unter dem Titel „Thurgau fix“ haben die KunstvermittlerInnen Christine Müller Stalder und Thomas Studer ein neues interdisziplinäres Festival kreiert. Das Ziel dabei: Herausfinden, wo der Kanton steht bei gesellschaftlichen Megatrends wie Individualisierung, Globalisierung, Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit. Mehr zu dem Projekt gibt es hier.
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