von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 02.08.2018
«Wir sind ein sehr egoistisches Land»
Es gab mal eine Zeit, da kam man an Walter Andreas Müller nicht vorbei. Funk, Fernsehen, Hörspiel, Theater, Satire, der 72-Jährige bespielte sämtliche Genres und wurde so zu einem der bekanntesten Schauspieler des Landes. Inzwischen ist er nicht mehr ganz so oft zu sehen, aber immer noch extrem fleissig. Wir haben ihn jetzt bei den Endproben zu den Schlossfestspielen Hagenwil besucht. Ein Gespräch über Schauspielerei, Karrierewege, das Alter und die Schweiz.
Herr Müller, in diesem Jahr spielen Sie mal wieder mit bei den Schlossfestspielen Hagenwil, Sie sind ausserdem im Patronat der Festspiele. Was bedeutet Ihnen das alles hier?
Für mich ist es vor allem ein sehr spezieller und wahnsinnig charmanter Ort. Es ist für mich auch faszinierend, dass es möglich war, hier quasi in der Pampa, eine künstlerische Kontinuität zu erreichen. Dass das funktioniert, freut mich und macht mich auch ein bisschen stolz.
Wie sind Sie überhaupt zu dem Projekt gestossen?
Die Geschichte fängt damit an, dass ich mit Florian Rexer in St. Gallen zusammengearbeitet habe, er war damals Regie-Assistent am Theater, ich war als Gast da. Als er die Schlossfestspiele vor gut 10 Jahren gründete, hat er mich gefragt, ob ich meinen Namen für eine Art Patronat hergeben würde. Das beinhaltete eigentlich lediglich, dass ich bei der Stückwahl beistehe, Vorschläge mache und fürs Programmheft das übliche Vorwort schreibe. Aber die Programmierung hat dann doch ein Stück weit meine Handschrift bekommen, insofern, dass ich versucht habe, Florian Rexer ein bisschen zu beeinflussen, so dass wir eine gewisse Linie reinbringen, also Autoren von Weltliteratur spielen und keine regionalen Schwänke aufführen. Florian hat mich dann irgendwann gefragt, ob ich nicht auch mal mitspielen wolle, das habe ich 2012 mit Moliéres „Der eingebildete Kranke“ begonnen und jetzt war es mal wieder an der Zeit, es erneut zu tun.
Dabei muss man sagen, dass der Ort, mit seiner schwierigen Über-Eck-Bühnen-Situation, eigentlich überhaupt nicht für Theater gemacht ist.
Absolut, das stimmt. Es ist eine grosse Herausforderung. Jedes Mal aufs Neue. Für die Schauspieler bei den Aufführungen und natürlich für die Regie und die Bühnenbildner im Vorfeld. Kurz gesagt: Es hat seine Tücken, aber das macht es auch spannend.
Sie spielen in diesem Jahr die Rolle des Oscar Lenglumé. Einem sehr bürgerlichen Typen, der nach einer durchzechten Nacht aufwacht und nicht mehr weiss, was er in dieser Nacht so alles getrieben hat. Wie bereiten Sie sich auf solch eine neue Rolle vor?
Es ist immer ein Auseinandersetzen mit der Figur. Bei mir geht da auch ganz viel über das Bauchgefühl. Ich lese das Stück und versuche zum Beispiel diesem Lenglumé, den ich jetzt spiele, einen Lebenslauf zu geben, der es mir ermöglicht ihn zu verkörpern. Dann geht es darum, dass ich mich in den Text vertiefe und versuche zu erspüren, was zwischen den Zeilen steht. Der Regisseur muss das dann letzten Endes kanalisieren. Ich bin aber auch jemand, der sich umhört und schlau macht, wo wurde das Stück schon gespielt, wie ist es gespielt worden. Dabei geht es nicht darum, etwas abzugucken von anderen Theatern, sondern nur zu schauen, wo andere Theater die Schwerpunkte setzen.
Und dann beginnen die Proben.
Ja, leider. Ich hasse Proben, ich möchte lieber liefern direkt auf der Bühne. Aber leider geht das eine nicht ohne das andere.
Fällt Ihnen der Beruf heute schwerer als früher?
Der Beruf fällt mir insofern schwerer, als ich immer mit jeder neuen Produktion besser sein will als mit der davorgehenden. Ich muss erreichen, dass die Leute hier rausgehen und sagen, ‚Im Moliére-Stück vor 6 Jahren war der WAM schon gut, aber was er hier jetzt wieder gespielt halt, das war ja toll!‘ Dieser Ehrgeiz hat mich in den vergangenen 50 Jahre immer angetrieben. Trotzdem sind da am Anfang auch immer Zweifel: Jedes Mal, wenn ein neues Rollenangebot kommt, denke ich: Schaffe ich das? Kann ich das noch?
Video: WAM auf der Bühne (1989)
«Jedes Mal, wenn ein neues Rollenangebot kommt, denke ich: Schaffe ich das? Kann ich das noch?»
Walter Andreas Müller, Schauspieler
Liegt das auch am Alter?
Nein, damit hat es nichts zu tun. Es liegt am ganzen Drum und Dran einer jeden Produktion: Schaffe ich diese erneute Steigerung? Diesen erneuten Sprung? Schaffe ich es erneut, die Leute zu überzeugen? Das ist eher der Motor des Zweifelns.
Ist Alter grundsätzlich eine Kategorie über die Sie nachdenken?
Alter ist eine vorgegebene Kategorie, die halt kommt mit den Jahren. Ich selbst kann für mich sagen, dass ich mich nicht alt fühle, sondern sehr gesund und fit. Ich habe offenbar gute Gene.
Sie stehen seit fast 50 Jahren auf den verschiedenen Bühnen und machen immer weiter - woher kommt diese grosse Schauspiel- und Arbeitslust?
Da möchte ich gerne Giacometti zitieren: „Ich sehne mich nicht nach Glück. Ich arbeite, weil ich unfähig bin, etwas anderes zu tun.“ Das stimmt 100-prozentig auch für mich. Ich habe immer den Traum gehabt, auf der Bühne zu stehen. Erst als Opernsänger, als ich mich dafür zu klein hielt, dachte ich, dann halt notgedrungen als Schauspieler. Das war immer mein Wunsch. In den letzten 50 Jahren hat mich vor allem die Arbeit angetrieben. Ich könnte mir nicht vorstellen, jetzt einfach hier zu sitzen und Däumchen zu drehen oder den Garten zu spritzen den ganzen Tag. Ich wäre todunglücklich ohne Arbeit.
Als sie ihr erstes festes Engagement im deutschen Rendsburg antraten - ahnten Sie damals, was aus Ihnen werden würde?
Ich erinnere mich noch an eine Jugendtheaterproduktion. Wir sind damals mitten im tiefsten Winter morgens um 5 Uhr losgezogen, weil wir die erste Vorstellung in einer Schule um 8 Uhr hatten. Da weiss ich noch, dass ich durch den meterhohen Schnee stapfte und dachte: „Wenn ich das durchstehe, dann will ich wirklich zum Theater.“
Video: WAM auf der Bühne (2008)
«Ich wäre todunglücklich ohne Arbeit.»
Walter Andreas Müller, Schauspieler und Parodist
Wie kam es, dass Sie relativ schnell wieder in die Schweiz zurück gegangen sind? Heimweh?
In Bielefeld ahnte ich allmählich: Deutschland hat nicht auf Walter Andreas Müller gewartet. Mir war klar: Wenn ich dort bleibe, dann geht es vielleicht weiter nach Dinslaken, Celle, Castrop-Rauxel oder weiss der Kuckuck was. Ich werde mit 65 Jahren pensioniert, bekomme mein Ruhegeld und das war es dann. Das wollte ich nicht. Ich habe gespürt, ich gehe lieber wieder zurück in die Schweiz und versuche, mir da ein kleines Gärtchen aufzubauen.
Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach?
Deutschland war mir einfach zu gross. Ich hab mich auch nicht getraut. Ich dachte, da schaffe ich es nie. Natürlich träumt man von Hollywood, man träumt von Berlin und von grossen Häusern. Aber ich spürte schon da, dass ich ausbrechen wollte, dass ich frei arbeiten wollte, dass ich viele Dinge tun wollte und nicht nur darauf warten, dass in irgendeinem Stadttheater mal eine halbwegs interessante Rolle für mich abfällt.
Wie schwer war es, sich einzugestehen, es in Deutschland nicht geschafft zu haben?
Das war gar nicht schwer. Der Gedanke war sehr einfach und klar: ich muss wieder zurück in die Schweiz. Da hat mir dann auch das Glück wieder geholfen. Als der Entschluss dazu 1972 in Bielefeld reifte, habe ich gleichzeitig einen Anruf von Kollegen aus Zürich bekommen, die gesagt haben, wir machen da im Kellertheater an der Winkelwiese ein Mitbestimmungsmodell. Hättest Du nicht auch Lust da mitzumachen? Da habe ich sofort zugesagt. Dadurch fiel mir der Abschied aus Deutschland auch leicht. Ich wusste, es geht in der Schweiz irgendwie weiter.
War die Rückkehr in die Schweiz im Nachhinein die klügste Entscheidung in Ihrer Karriere?
Absolut. In der Schweiz konnte ich alles machen, was ich machen wollte: Funk, Fernsehen, Hörspielgeschichten, Satire, Theater - das war und ist ein grosses Glück für das ich auch sehr dankbar bin.
«Wir sind nach wie vor ein sehr egoistisches Land geblieben, das sich einigelt.»
Walter Andreas Müller (72) über den Zustand der Schweiz
Video: WAM, der Parodist
Sie haben viel erlebt und gesehen in den vergangenen Jahrzehnten. Waren mal weg aus dem Land, dann wieder da. Wie hat sich die Schweiz verändert?
Also, es haben sich natürlich einige Dinge verändert in den vergangenen 50 Jahren. Aber grundsätzlich finde ich, dass sich die Schweiz nicht wahnsinnig verändert hat. Wir sind nach wie vor ein sehr egoistisches Land geblieben, das sich einigelt und nach wie vor Mühe hat mit Europa zum Beispiel. Das nervt mich immer noch. Ich finde das wahnsinnig schade, dass wir so engstirnig sind manchmal in der Politik.
Ist das gesellschaftliche Klima offener geworden?
Ich erlebe in meinem Umfeld eine grosse Progressivität, eine grosse Offenheit. Aber das liegt sicher auch an dem Umfeld in dem ich mich bewege. Wenn ich die Zeitung so lese, dann bekomme ich aber den Eindruck, dass das in anderen Teilen der Gesellschaft durchaus anders ist.
Bereitet Ihnen das Sorgen?
Ich finde es einfach schade, dass manche Leute so verschlossen sind. Sie verpassen so viel! Ich muss aber zugeben, dass ich selbst kein sonderlich politischer Mensch bin. Auch wenn viele Leute zu mir gesagt haben: Geh doch in die Politik! Ganz ehrlich: Das könnte ich nicht. Ich kann mich zwar echauffieren, aber ich glaube nicht, dass ich als Politiker geeignet wäre.
Warum nicht?
Das ist jetzt fast ein bisschen beschämend, aber am Ende interessiert es mich auch zu wenig.
1978 spielten sie als Schauspieler in einem Einspieler in der Telearena mit. Es ging um Homosexualität. Die Sendung verursachte damals einen ziemlichen Wirbel…
Was man da als Voten in dieser Sendung gehört hat, das war schon unglaublich. In dem Punkt sind wir heute Gott sei Dank weiter. Für mich ganz persönlich habe ich das damals bei dieser Telearena im Stillen befreiend gefunden, mal so eine Rolle spielen zu können.
Video: So wurde 1978 in der Schweiz über Homosexualiät diskutiert
Sie sind selbst sehr lange, sehr zurückhaltend mit ihrer Homosexualität umgegangen. Warum?
Erstmal finde ich, dass bestimmte Dinge privat sind und es auch bleiben sollten. Was geht es die Öffentlichkeit an wen ich liebe? Dazu kommt: Ich habe das auch meinem Partner zuliebe nie thematisiert, es gibt zum Beispiel auch keine gemeinsamen Fotos von uns in der Öffentlichkeit. Ich habe mich lange Zeit mit dem Thema schwer getan. Eigentlich hat sich mein Umgang damit erst in der Schauspielschule etwas entkrampft. Aber davor? Wenn ich an meine Militärzeit denke, oh je. Nie hätte ich es gewagt, zu einem Offizier zu gehen und zu fragen: Bist du auch schwul? Obwohl ich vielleicht gemerkt habe, dass er es war. Nie und nimmer. Beim Duschen hat man immer so verschämt nach unten geschaut und nur heimlich zum Nebenmann geguckt.
Waren die teilweise geharnischten Kommentare auf die Telearena-Sendung auch ein Grund für Sie, mit dem eigenen Coming Out noch zu warten?
Sicher hat das auch eine Rolle gespielt. Ich habe das nicht so reflektiert und so bewusst entschieden, aber intuitiv hatte ich das Gefühl, es nicht in die Öffentlichkeit tragen zu wollen. Ich hatte auch immer die Angst, ich verliere dann was.
«Ich hatte Angst, dass die Leute mich nicht mehr ernst nehmen.»
Walter Andreas Müller (72) über sein spätes Coming-Out
Was hätten Sie verlieren können?
Nun ja. Es war ein bisschen so wie bei meinem Komikerkollegen Walter Roderer. Der hat zum Beispiel nie zu seiner politischen Haltung gestanden. Er war ein SVP-Mensch, er hat dies jedoch nie thematisiert. Später hat er mir mal gesagt, er habe Angst gehabt, dass er durch ein politisches Bekenntnis einen Teil seines Publikum verlieren könnte. Vielleicht hat das bei mir auch eine Rolle gespielt: Die Befürchtung, dass die Leute mich nicht mehr ernst nehmen, wenn ich einen heterosexuellen Ehemann spiele, oder so. Ich war da vielleicht auch ein bisschen naiv.
Auf eine Demo für Anerkennung von Homosexualität zu gehen, wäre Ihnen also nicht in den Sinn gekommen?
Nein, ich war nie derjenige, der mit der Fahne vorne wegläuft. Ich war da eher Mitläufer. Ich war immer ein sehr zurückhaltender Mensch bei diesem Thema. Ich habe es lange lange Zeit auch schlicht verschwiegen. Das wurde alles sehr tabuisiert in meiner Generation. Christoph Marti (von den „Geschwister Pfister“) hat das kürzlich in einem Tweet sehr pointiert zusammengefasst: «Wir waren alles homophobe Arschlöcher.» So bitter es ist. Aber so war es: Auch ich habe mitgelacht im Militär bei den Schwulen-Witzen.
Video: Die komplette Telearena-Sendung zum Anschauen
Die Schlossfestspiele Hagenwil
Das Stück: «Die Affäre Rue de Lourcine». Die Komödie von Eugène Labiche aus dem Jahr 1857 verbindet französisches Flair mit schwarzem Humor. Regie führt Florian Rexer. Der Inhalt: Hauptdarsteller Lenglumé verbringt den Abend beim Ehemaligentreff seiner alten Schule. Am nächsten Morgen erwacht er ohne Erinnerung an die Geschehnisse neben einem fremden Mann, seinem Schulkameraden Mistingue. Aus der Zeitung erfährt er von einem brutalen Mord an einer jungen Kohlenschlepperin in der vergangenen Nacht. Unterstützt von einer Reihe von Indizien kommen die beiden zum Schluss, dass sie im Rausch jenen grausamen Mord begangen haben müssen. Nun versuchen die beiden, mit einer Reihe von immer grotesker werdenden Rettungsversuchen, einen drohenden Skandal abzuwenden.
Die Termine: Premiere ist am Mittwoch, 8. August, 20.30 Uhr. Sie ist allerdings schon ausverkauft. Weitere Aufführungen gibt es bis 8. September fast täglich. Alle Termine siehe unten bei den «Dazugehörigen Veranstaltungen».
Die Karten: Der Vorverkauf läuft direkt über die Internetseite der Schlossfestspiele
Der WAM: Geboren am 3. September 1945 in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Verlagskaufmann liess sich Walter Andreas Müller von 1966 bis 1969 am Bühnenstudio Zürich zum Schauspieler ausbilden. Danach hatte er feste Engagements in Deutschland an den Bühnen von Bielefeld, Köln und Rendsburg. 1972 kehrte er in die Schweiz zurück, wo er mehrere Jahre am Zürcher Theater an der Winkelwiese spielte. Seit 1975 ist Walter Andreas Müller als freier Schauspieler an verschiedenen Theatern, als Kabarettist, Radiomoderator, Hörspielsprecher und Imitator tätig. Mehr zu seiner Vita gibt es hier und hier.
Das Kinderstück: Ab dem 12. August wird "Tischlein deck Dich", ein Märchen nach den Brüdern Grimm, als Kinderstück bei den diesjährigen Schlossfestspielen an mehreren Terminen aufgeführt. Auch hier ist Florian Rexer Regisseur. Mehr dazu gibt es hier: http://schlossfestspiele-hagenwil.ch/tischlein/
Video: Beitrag von arttv.ch zur Produktion "Der Revisor"
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