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von Inka Grabowsky, 14.10.2019

Hinter der ältesten Mauer des Thurgau

Hinter der ältesten Mauer des Thurgau
Der Kantonsarchäologe Hansjörg Brem erklärt die Geschichte des Rückzugsortes bei Toos. | © Inka Grabowsky

Vor 3800 Jahren bauten sich Menschen eine Fluchtburg auf einem Hochplateau bei Toos. Sie wurde über mehrere Jahrhunderte genutzt. Die Archäologen haben darin viele spannende Geschichten gefunden.

Die Gegend rund um Bürglen ist bekannt für ihre Ziegel. Hier im Untergrund gibt es Ton, der bis heute ein begehrtes Rohmaterial ist. Der Suche nach neuen Tongruben für die Ziegelei Istighofen wäre fast ein Zeitzeugnis besonderer Art zum Opfer gefallen: ein rundlicher Hügel am Ende eines natürlichen Grats in Waldi bei Toos.

In ihm fanden Archäologen 1969 Bodenschätze anderer Art: die älteste Mauer des Thurgaus und damit den Nachweis einer bronzezeitlichen Siedlung, die vielleicht zwanzig Häuser mit je fünf Bewohnern umfasst haben könnte. Sie wurde in der Frühbronzezeit errichtet (17./16. Jahrhundert vor Christus) Der Lehm im Boden hat gewichtige Nachteile, wenn man nicht gerade ein bronzezeitlicher Töpfer ist: Er lässt Regenwasser kaum abfliessen. Für den Ackerbau ist das denkbar ungünstig, wie Kantonsarchäologe Hansjörg Brem erklärt: „Es muss andere Gründe geben, weshalb die Menschen ausgerechnet hier gesiedelt haben. Wir gehen davon aus, dass die Angst vor Überfällen der Hauptgrund war.“

Ein zerbrochener Krug erzählt viele Geschichten. Bild: Inka Grabowsky

Wer Handel treibt, bei dem ist etwas zu holen.

Die Bronzezeit hat ihren Namen, weil die Menschen herausfanden, wie man metallene Werkzeuge herstellen kann, die länger hielten als jene aus Stein. Nun braucht man aber für die Legierung neben neunzig Prozent Kupfer auch zehn Prozent Zinn – und während Kupfer in den Alpen durchaus vorkommt, musste Zinn von weither importiert werden. Die Menschen mussten also neben Ackerbau und Viehzucht auch Handel treiben. Dazu wiederum brauchten sie eine Infrastruktur – im konkreten Fall einen Pfad vom verkehrsgünstig gelegenen Handelsplatz Bodensee zu den nächsten Siedlungen in Richtung Wil, in dessen Verlauf man die Thur halbwegs sicher überqueren konnte.

Wie weit die Handelbeziehungen schon vor 3800 Jahren reichten, beweisen Funde von Bernsteinperlen von der Ostsee und ein Stück einer Pferde-Trense das mutmasslich aus dem Gebiet des heutigen Ungarn kam. „Pferde waren in der Bronzezeit ein grosser Luxus“, so Hansjörg Brem. „Man konnte sie in der Landwirtschaft nicht brauchen, sondern nur auf ihnen reiten. Das Fragment der Trense zeigt uns also, dass es schon damals eine sozial segregierte Gesellschaft gab.“

Die einstige Hochebene von Norden her gesehen. Links im Bild der Abbau von Tonerde. Luftaufnahme 2008. Bild: Amt für Archäologie Thurgau

Wie die Mauer über die Jahre zur Angriffsrampe für die Feinde wurde

Es ist leicht denkbar, dass schon vor 4000 Jahren Menschen einander beraubt haben. Die Siedler von Waldi bei Toos jedenfalls hatten soviel Angst, dass sie nicht nur in ein unwirtliches Gebiet in der Höhe zogen, sondern ausserdem einen Palisadenzaun errichteten. Messungen mit Bodenradar 2005 zeigten entsprechenden Spuren. Grösste Besonderheit des Ortes jedoch ist die über drei Meter hohe Mauer, mit der die Siedler ihren Rückzugsraum auf dem Hochplateau schützen wollten.

Ungefähr im 17. Jahrhundert vor Christus schichteten sie Steine, Erde und Holz auf und versahen das Ganze mit einer Steinmauer, die allerdings offenkundig dem Druck des Erdreichs nicht lange standgehalten hat. „Um sie zu stützen, musste auf der Aussenseite ebenfalls Erde aufgeschüttet werden“, erklärt Simone Bengurel, die Leiterin der Grabungen im Amt für Archäologie. „Die Verteidiger haben also ihren Feinden quasi eine Angriffsrampe gebaut.“

Simone Benguerel, Leiterin Grabungen im Amt für Archäologie, zeigt die Arbeit ihrer Vorgänger. Bild: Inka Grabowsky

Fluchtburg über Jahrhunderte

Trotz dieses Systemfehlers wurde der geschützte Platz über Jahrhunderte immer wieder benutzt, wenn man sicher vor Angreifern sein wollte. Bei Grabungen 1974 schufen sich die Archäologen „Sichtfenster“ in die Vergangenheit. Sie fanden für Laien unspektakulärere dunkle Flecken im Bodenhorizont, die ihnen zeigen, dass Menschen hier Feuer entfacht haben, aber auch Fassbares wie Abfallmaterial, meist Tierknochen oder Keramikscherben. „Der sich verändernde Stil der Scherben verrät uns 8 - 900 Jahre Nutzungszeit“, sagt Bengurel. Bis ins Jahr 300 nach Christus dauert die Besiedlungsgeschichte. Die Ausgräber fanden Münzen aus spätrömischer Zeit.

Nach dem Einzug der Römer war es in der Region offenkundig eine Weile friedlich zugegangen, aber dann wurden die germanischen Stämme stärker – sie überfielen immer wieder römisches Gebiet jenseits des Rhein-Limes. „Damals typische römische Spitzgräben zur Verteidigung entstanden“ so Hansjörg Brem. „Damit war das Refugium aber immer noch eine provisorische Fluchtburg, nicht zu vergleichen mit professionellen Kastellen wie in Pfyn. Nach dieser Zeit geriet der Platz in Vergessenheit.  Die Menschen zogen wohl ein paar Hügel weiter, dichter an bestehende Verkehrswege.  In Waldi passiert bis zum Antrag auf den Lehmabbau in den sechziger Jahren nicht viel – ein Glück für die Archäologen.

„Das Innere des Bodens erinnert an eine Cremeschnitte, in der sich Lehmbänder, Sand und Kies abwechseln.“

Hansjörg Brem, Kantonsarchäologe 

Der Hügel, unter dem sich die uralte Festungsmauer verbirgt, ist frei zugänglich. Weil man ohne Insiderkenntnisse nicht ahnt, was sich in ihm verbirgt, erklärt eine Schautafel sein Innenleben. „Nur was man kennt, kann man schützen“, ist Hansjörg Brem überzeugt. Deshalb hat er nichts gegen Besucher der Fundstätte. Sie liegt am ausgeschilderten Geoweg. Er führt an markanten Geländeformationen vorbei, unter anderem auch am Itobel, durch das sich der Itobelbach gefressen hat. „Dadurch sieht man das Innere des Bodens: Er erinnert an eine Cremeschnitte, in der sich Lehmbänder, Sand und Kies abwechseln“, beschreibt der Kantonsarchäologe. „Im weichen Sandstein gibt es Höhlen – wurden gerne für die Lagerung von Obst oder Bier genutzt. Die meisten Legenden ranken sich jedoch um das berühmte Bruderloch.“  

Die Archäologen haben einen Trend beobachtet: „Die Menschen wollen offenkundig ihre Heimat entdecken und die Erlebnisse auf den sozialen Medien veröffentlichen. Wir mussten bei Exkursionen schon Leute abweisen, weil sonst die Gruppen zu gross geworden wären.“ Dem Interesse will das Amt für Archäologie Rechnung tragen. Demnächst soll es also mehr Angebote für öffentliche Touren geben.
 
Weiterlesen: Ein PDF zur archäologischen Fundstelle mit allen wesentlichen Informationen gibt es hier: Infotafeln_Toos-Waldi_12_2015.pdf. Weitere Infos auch unter https://archaeologie.tg.ch/ 

Kantonsarchäologe Hansjörg Brem sowie die beiden Archäologinnen Iris Hutter und Simone Benguerel auf der Höhensiedlung Waldi bei Toos. Bild: zVg




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