von Maria Schorpp, 07.12.2023
Freundliche Toreros, rollende Strandwellen und liebenswerte Wesen
Rahel Wohlgensinger und Simon Engeli verzaubern in der Theaterwekstatt Gleis 5 in Frauenfeld die Kleinen und bringen die Grossen zum Dauerlächeln. Mit dem Stück „Stoffen“ erwecken sie das gewebte Material zu erstaunlichen Lebensformen. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Kommt auch nicht alle Tage vor, dass man vor dem Betreten des Theaterraums gebeten wird, die Schuhe auszuziehen. Während man denkt, dass die alten, aber warmen Socken eigentlich nicht öffentlichkeitstauglich sind, hat sich bereits eine Schlange von Sockenträgerinnen und Sockenträgern gebildet, ganz kleinen und ziemlich grossen. Beim Reingehen dann auf der fadenscheinigen Wolle meint man eine allgemeine gespannte Stille wahrzunehmen. Als ob das Stehen und Gehen auf dem weichen Material eine sinnliche Aufmerksamkeit wachrufen würde, die sonst von klackenden und quietschenden Schuhsohlen niedergehalten wird.
Tanz mit dem Material
Um die Sinne geht es in Rahel Wohlgensingers Trilogie, in der sie zuvor das Material Mehl und das Phänomen Klang nähergebracht hat. Zum Abschluss nun „Stoffen“, dieser sowohl einfühlsame als auch kraftvolle Tanz mit dem Material, das dem modernen Menschen fast zum Teil seines Körpers geworden ist. Es bedeckt ihn, es wärmt ihn, es schützt ihn und gibt ihm die Möglichkeit, der Aussenwelt ein Bild von sich zu präsentieren. Was läge näher, sich den „Stoffen“ anzunehmen, sie sinnlich zu erfühlen, ihre Beweglichkeit und Formbarkeit auszuloten, ihrem eigenständigen Charakter auf die Spur zu kommen.
Die Puppenspielerin Wohlgensinger hat mit ihrem Partner Simon Engeli, der hier als Klangkünstler mitspielt, ein faszinierendes Augen-Ohr-Haut-Abenteuer komponiert, das zuallererst denjenigen gewidmet ist, die noch freien Zugang zu ihren fünf Sinnen haben. Kita-Kinder ab zwei ist das Zielpublikum, von denen schon vor der Premiere einige quasi als Testinstanz die Qualität der Produktion beurteilte. Dann erst kommt das erwachsene Begleitpersonal, das von den fliessenden Bewegungen, dem Farbenspiel und diesem klackenden, reibenden und zupfenden Klangspiel eingefangen wird.
Ganz in Schwarz betritt Rahel Wohlgensinger den Bühnenraum, der ebenfalls bis auf den grauen Tanzteppich ganz dunkel gehalten ist. Umso mehr fällt der bunte Wäschestapel ins Auge, den sie hereinbringt. Ein fast goldfarbenes Stück Stoff, das sie herausgreift, scheint sie aus den Routinen des Alltags herauszureissen. Sie beginnt, es staunend zu befühlen, nimmt es hoch, um auszuprobieren, was man alles mit ihm machen kann.
Video: Trailer zu „Stoffen“
Stoffgeräusche
Wie ein freundlicher Torero sieht sie aus, wenn sie mit dem gelben statt roten Tuch diese typischen, herausfordernden Bewegungen vollführt. Später ist sie eine Fahnenschwingerin, die den Stoff nach oben in die Luft wirbelt, um ihn wieder aufzufangen. Die dabei entstehenden Geräusche verstärkt und interpretiert Simon Engeli, allesamt sind sie vom Umgang mit Stoffen erzeugt, auch die gemeinsam mit dem Geräuschemacher Max Bauer vorproduzierten. Da ist ein Wollfaden, den er wie eine Saite zupft, da liegt ein dicker Stoff auf seinem Oberschenkel, den er wie eine Trommel schlägt.
Mit der viel grösseren, meterlangen Stoffbahn, die die Spielerin dann aus dem Stapel zieht, wird die Kunst und Kunstfertigkeit dieser Produktion vollends offensichtlich. Wieder hat Andrea Kilian Regie geführt. Rahel Wohlgesinger entlockt dem fliessenden Material wohlige Wellenbewegungen, die an einen fiktiven Strand gespült werden. Dann hält sie das Tuch an ihren Körper und ist mit einem Mal mit einer Abendrobe bekleidet.
Zauberhafte Lichteffekt
Im Zusammenspiel mit den zauberhaften Lichteffekten von Christian Bühlmann changieren die Farben, werden Bewegungen der Stoffbahnen betont oder diese scheinbar erst in Bewegung versetzt. Wie die magischen Lichtwellen, die die weisse Stoffbahn durchlaufen. Einmal zieht Rahel Wohlgensinger sie auf einem Podest stehend hoch über ihre gesamte Statur, was aussieht, als habe sie sich in eine Wassersäule verwandelt. Gefolgt von den kraftvollen Drehbewegungen, aus denen schlangenartige Wesen entstehen.
Rahel Wohlgensinger erweckt das Material zum Leben. Sie lässt sich auf die Eigenschaften der Stoffe ein und spielt sie wieder an sie zurück. Das nimmt auch lustige Seiten an, wenn sie dieses türkisfarbene Teil herausgreift und die Puppenspielerin in ihr erwacht. Mit kaum wahrnehmbaren Handgriffen erzielt sie Effekte, die die Phantasie anspringen lassen.
Phantasiewesen wie aus dem Nichts
Nach und nach und wie aus dem Nichts werden Phantasiefiguren daraus, ein am Boden entlangschnüffelndes Rüsseltier. Oder das lustige und gleichzeitig anrührende Stoffwesen, das seiner Erfinderin buchstäblich auf den Zahn fühlt. Da wird der weit aufgesperrte Mund zahnarztmässig inspiziert, die Ohren begutachtet, die Brüste betastet und an den Füssen gerochen. Aus dem Lautgebrabbel, das Simon Engeli dem Puppenwesen dabei in dem Mund legt, lässt sich unschwer das Wort „Cheese“ heraushören. Den Kids gefällts, keine Frage. Den Mitgekommenen ebenso.
Eine halbe Stunde Zauber, eine poetische Entführung in eine Welt der freundlichen Toreros, in der wie in einer Meditation sanfte Wellen an den Strand rollen und liebenswerte Phantasiewesen ihren Spass haben. Am liebsten wäre man am Ende mitgekommen mit den Kleinen auf die Bühne, um zu schwingen, Stoffschlangen zu drechseln und Stoffbahnen mit einem lauten Ritschratsch auseinander zu ziehen. Aber mit DEN Socken?
Weitere Vorstellungen
Sonntag, 10. Dezember, Mittwoch, 13. Dezember und Sonntag, 17. Dezember 2023, jeweils um 15 Uhr. Karten können hier reserviert werden.
Von Maria Schorpp
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