von Brigitte Elsner-Heller, 11.07.2018
Flucht ohne Zuflucht?
Ein Hörprojekt von Schülern zu Flucht und Migration macht deutlich, dass viele Menschen draussen vor der Tür bleiben. Auch ein sogenannter „Migrationshintergrund“ kann zu Ausgrenzung führen. Das komplette Hörspiel jetzt bei uns auch zum Nachhören.
Draussen vor der Tür. Wolfgang Borchert hatte einen starken Titel für sein Drama gewählt, mit dem er in der Nachkriegszeit die Entwurzelung der Menschen zeigte, die jegliche Heimat verloren hatten – verschwunden mit den Menschen, Orten und Erinnerungen. Ohne die Möglichkeit, sich seiner selbst vergewissern zu können. Europa hat eine lange Phase des Friedens seitdem erleben dürfen. Trotzdem gab es immer wieder die Frage, wer „drin“ und wer „draussen“ ist. Wer gehört dazu und darf sich aufgehoben und sicher fühlen? Wo sind überhaupt noch Türen? Werden sie nicht gerade durch Mauern ersetzt?
Ursachen von Flucht und Migration
Europa ist längst kein geschlossenes System mehr, falls es das je gewesen sein sollte. Und es ist in Teilen tatsächlich multikulturell. Migration erfolgte zunächst durch die Anwerbung von dringend benötigten Arbeitskräften (also aus Selbstinteresse der ökonomisch weiter entwickelten Staaten), dann durch die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Und heute? Wer kennt sie nicht, die Bilder von flüchtenden Menschen auf seeuntüchtigen Booten auf dem Mittelmeer, auf der sogenannten „Balkanroute“ oder die der Afrikaner, die durch die Wüste gelaufen sind, um dann an der Küste des Mittelmeers noch einmal neu Mut fassen zu müssen.
Auch wenn die Schweiz eine etwas andere Geschichte hat als die übrigen europäischen Länder, ist sie vom Weltgeschehen nicht abgekoppelt. Auch hier leben Menschen „mit Migrationshintergrund“, wie es heute geradezu technisch verkürzt heisst, und nun auch Menschen, die aus Syrien, Afghanistan oder einem afrikanischen Land geflohen sind.
Hörprojekt „Nach Hause fliehen. Tränen, Flüsse, Meer“
Für Politik und Wirtschaft gilt „Kultur“ als weicher Standortfaktor. Welche Kraft kulturelle Projekte aber entfalten können – und zwar nach innen wie nach aussen und von daher durchaus politisch – dafür darf ab jetzt im Thurgau auch das Hörprojekt „Nach Hause fliehen. Tränen, Flüsse, Meer“ stehen, das vor wenigen Tagen, im grossen Ausstellungskeller des Kunstmuseums Thurgau präsentiert wurde. Zu beeindruckenden Künstlern wurden dabei Kinder und Jugendliche dreier Schulklassen aus Weinfelden (vom Schulzentrum Paul-Reinhart und der Sekundarschule Thomas Bornhauser) , die das Hörprojekt zum Thema Flucht und Migration zusammen mit Diana Rojas (Konzept und Regie), Michael Sauter (Komposition, Musik), Donat Blum (Textentwicklung) und Markus Baumann (Gesamtleitung) erarbeitet hatten.
2016 war vom Kulturamt Thurgau der Wettbewerb „KOMET“ ausgeschrieben worden mit dem Ziel, innovative Vermittlungsprojekte für Schulklassen im Thurgau zu entwickeln. Vor einem Jahr startete die Performerin Diana Rojas mit der Konzeptfassung; für die Realisierung des Hörprojekts wurde nun sechs Wochen lang intensiv mit den Schülerinnen und Schülern gearbeitet. Sie haben dabei auch von sich selbst erzählt, haben dokumentarisch gearbeitet, indem sie mit zwei aus Afghanistan beziehungsweise Syrien geflüchteten jungen Männern gesprochen haben – und sie haben die Stimmen von Thurgauerinnen und Thurgauern eingefangen, die wohl schon immer hier ihre Heimat hatten.
Das komplette Hörspiel zum Anhören:
Auch „Migrationshintergrund“ wird zum Thema
Diana Rojas, gebürtige Kolumbianerin, lebt seit 15 Jahren in Zürich, sie ist nicht geflüchtet. Sie sagt, dass es für Geflüchtete zunächst schwierig sei, in der Schweiz Papiere zu bekommen, dafür werde bei anerkannten Flüchtlingen dann viel für die Integration getan. Für sie war ein zentraler Anreiz, sich für das Projekt zu engagieren, dass es im Thurgau verortet sein sollte. „Dem Thurgau geht der Ruf voraus, dass die Menschen dort nicht gern weit weg fahren“, sagt sie und nimmt damit Bezug auf die eher ländlich geprägte Struktur des Kantons . Immerhin hatten fast die Hälfte der jüngeren Schüler, die etwa 9 Jahre alt sind, sowie fast drei Viertel der älteren, etwa 15-jährigen, einen sogenannten Migrationshintergrund. Was sich dann auch als Thema in der Hörcollage wiederfinden sollte.
Auf dem Meer
Zur Präsentation wurde eine Soundinstallation im Gewölbekeller des Kunstmuseums eingerichtet, der sonst zu Ausstellungszwecken dient. Und tatsächlich ist der Raum auch jetzt nicht wahllos bestuhlt für Mitwirkende und Publikum. Im noch leeren Raum ist gut zu erkennen, dass zwei jeweils spindelförmig angeordnete Stuhlreihen den Umriss eines Bootes beschreiben. Die Menschen werden nach aussen – quasi aufs Meer – schauen, während sie zuhören. Das erste, was zu hören ist, ist das Tropfen von Wasser. Wir treiben also schon auf dem Meer, als das Knarzgeräusch eines „Radios“ markiert, dass wir „nur“ hören werden, was wir erfahren und erleben sollen.
Am Anfang steht die Frage nach der Herkunft, verankert im Ruf „Mama!“. Ein Stimmengewirr folgt, wobei Schweizerdeutsch auch selbstverständlich die Anwort „Italien“ oder „Kosovo“ einfärbt. Noch wirkt das nach munterem Treiben, bis die Stimme des heute 18-jährigen Syrers klar zu vernehmen ist: Über die Türkei und Griechenland ist er gekommen. „Ich fühlte mich verloren, weil das nicht meine Welt war und ich die Sprache nicht verstanden habe.“ Eine Schiffssirene unterbricht.
«Ich vermisse meine Vergangenheit.»
Zitat aus dem Hörspiel
Schülerinnen und Schüler fühlen sich erstaunlich konkret in die Situation von Flucht ein, stellen fest, dass es vieles gibt, was sie selbst vermissen würden, weil sie fast alles zurücklassen müssten. Da würde der eine dann wohl überlegt seinen Schlafsack mitnehmen, der andere seinen Hund und – ja, sogar ein Legostein könnte es sein „als Erinnerung an meine Legosammlung.“ Das klingt nur vordergründig kindlich, dahinter steht die Macht emotionaler Erinnerung, die den zeitlichen Ablauf eines Lebens erst zu einem „Selbst“ zusammen schweisst: „Ich vermisse meine Vergangenheit“ ist auch einer dieser Sätze, die fallen.
Das, was von den beiden Geflüchteten zu hören ist, hat die Schülerinnen und Schüler mit Sicherheit bewegt („Ich habe Salzwasser getrunken und Blätter gegessen“), beide haben schliesslich auch ihre Familien verloren durch die Flucht, und sie haben Freunde sterben sehen. In der Stille des Gewölbekellers kann man sich dem, was man hört, dann auch nicht entziehen. Das Licht ist gedämpft, Kinder, Jugendliche und deren Familien im Publikum bleiben still und hören ebenfalls noch einmal dem zu, was sie mit Hilfe der Kunstschaffenden zustande gebracht haben. Die Mischung aus den gemeinsam entwickelten Texten, den Klängen und Singstimmen ist ausgesprochen ästhetisch ausgefallen – aber das scheint angesichts der Wucht der inhaltlichen Aussagen schon keine angemessene Erwähnung zu sein.
Bilderstrecke: Schüler bei Recherche und Produktion des Hörprojektes (alle Fotos von Nathalie Guinand)
Den grössten Eindruck macht dann auch die Ernsthaftigkeit, mit der die Kinder und Jugendlichen sich dem Thema Flucht und Migration gestellt haben. Im Lauf des etwa einstündigen Hörstückes erhalten ihre autobiografischen Einsprengsel dann auch immer mehr Gewicht. Im Gefühl der Flüchtlinge, fremd und allein zu sein, tauchen eigene Erfahrungen auf. Mobbing und Ausgrenzung werden zum Thema.
Heimat: Keine Zuflucht für alle
Und die Heimat? Zum Begriff werden viele Bilder hervorgerufen: „Heimat ist da, wo ich beschützt werde und sicher bin.“ „Heimat ist da, wo kein Krieg ist.“ Und die von erlebter Geborgenheit zeugende Aussage: „Bei uns riecht die Heimat nach Bratwurst.“ Dass die Heimat auch ein Gefängnis sein kann, wird nicht ausgespart.
Als harsche Anklage wirken die Aussagen von Bürgerinnen und Bürgern im Thurgau, die zum Thema Flüchtlinge befragt wurden. Sie mögen vielleicht nicht repräsentativ sein, spiegeln aber das wider, was unausgesprochen oder dann eben doch ausgesprochen in den Köpfen spukt: Man könne nie wissen, ob Flüchtlinge kriminell seien. Und die Angst vor Fremdem sei doch immer da. Als Gegenpart noch einmal die Stimme des Geflüchteten, der nun auf Arbeit und ein gutes Leben hofft: „Ich war dort und habe viermal 'Hallo' gesagt“ - ohne Resonanz. Flucht und Zuflucht – ein Wortpaar, das nicht immer einträchtig zueinander findet.
Die Hoffnung: Es sollte nicht zu Ende sein
Ein Projekt, das durch seine Intensität und seine emotionale Ehrlichkeit ungemein beeindruckt. Die Vornamen der 40 Schülerinnen und Schüler werden am Schluss einzeln genannt, und sie erheben sich dazu aus den Reihen des Publikums. Auch dies noch einmal ein besonderes Bild. Nur beim Hinausgehen steht einer der geflüchteten jungen Männer auf einmal für Augenblicke alleine da.
Im Radio: Das Hörspiel soll in diesem Jahr auch im Rundfunk auf den Sendern Radio Lora (Zürich) und Kanal K (Aargau) laufen. Die genauen Sendetermine stehen noch nicht fest.
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