02.02.2021
«Euch zeig ich’s!»
#meinerstesmal: Von Angst und Drang auf die Bühne zu gehen. Die Kabarettistin Martina Hügi erinnert sich an ihre ersten Schritte im Scheinwerferlicht. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Meine Musiklehrerin hat mich zu einem Klavierwettbewerb angemeldet. Ein erster Auftritt vor Menschen. Und Experten. Leute, die einem zuhören, obwohl sie einen nicht kennen. Das schlimmste war das ewig lange Warten auf den Moment, wo’s endlich vorbei ist und ich mich immer wieder fragen konnte: «Warum tue ich mir das an?»
Um aus mir rauszukommen. Mit Gewalt. Wurde ich doch von Eltern und Gesellschaft dazu erzogen, anständig und brav in mir drin zu bleiben, vernünftig zu sein, einen «richtigen» Beruf zu haben und in geordneten Bahnen zu leben. Und was mach ich? Kunst. Der einzige Trost in dieser Flut an Nervosität: Bei selber komponierten Stücken weiss kein Mensch, ob das Absicht ist oder Unfall.
«Töne begannen zu sprechen und zeigten mir Gefühle, für die ich noch keine Sprache hatte.»
Martina Hügi, Kabarettistin (Bild: Valerio Moser)
Wochen später kam die Nachricht, ich hätte in Eigenkomposition gewonnen und dürfe am Schlusskonzert im KKL Luzern auftreten. Mit dem Stück «der Tod». Für die Maturarbeit hatte ich Stücke geschrieben von Geburt bis Tod, mit dem verbindenden Element des Herzschlags.
Doch wo hatte alles überhaupt angefangen? Im Semi hatte ich mit Klavierunterricht angefangen, spielte aber lieber eigene Melodien. Töne begannen zu sprechen und zeigten mir Gefühle, für die ich noch keine Sprache hatte. Und so spielte ich für Stunden, um zu fühlen und aus meiner Welt auszubrechen - allein im Klavierzimmer. In dieser geschützten Werkstatt, wo ich endlich aus der Erwartung, funktionieren zu müssen, ausbrechen konnte und einfach sein durfte.
Ich dachte: Ich kann doch gar nichts
Wochen später. Da stand ich nun, im schwarzen Saal des KKL. Passt zum Tod. Im Backstage spielte ein Mädchen krasse Melodien, die Mutter daneben schimpfte auf Russisch. Das ist nicht meine Welt. Ich kann doch gar nichts, ich blutige Anfängerin - sie werden den Betrug entlarven - Selbstzweifel kamen auf. Alles was ich kann, ist meine Welt zu zeigen. Meine Rebellion in Ton. Mehr nicht.
Der Moment kam bedrohlich näher. Das Herz schlug mir schier aus den Rippen. Fast wie Wehen kamen die Nervositätsschübe. Aber solange mein Herz schlägt, dachte ich, schlag ich zurück. Hinter dem Vorhang hörte ich die Moderatorin meinen Namen sagen und dann wurde ich plötzlich ruhig. Nur ein einziger Gedanke stand noch da: «Euch zeig ich’s!»
Gegen die Vernunft zu handeln ist manchmal das einzig Vernünftige
Ich trat hinaus, geblendet von Scheinwerfern. In der Ferne Applaus, sah nur den Flügel, setzte mich hin - euch zeig ich’s - meine Hände zitterten, aber sie spielten mit. Ich genoss jeden Ton, jede Pause und liess die Klänge am Ende verhallen. Totenstille. Im schwarzen Saal. Dann langer Applaus und das Gefühl: «Euch hab ich’s zeigt!» Der Tod kommt sowieso, so klingt er. Manchmal gegen die Vernunft handeln ist also das einzig Vernünftige! Wie zum Beispiel sich zu zwingen, aus sich rauszukommen und auf die Bühne zu stehen.
Und jedes Mal, wenn ich nun mit einem Text oder Stück einen ersten Auftritt habe, kommt es mir wieder vor wie eine Geburt: Das Herz schlägt wie nie, die Moderation wird zur Geburtshelferin, aber auf die Welt kommen muss man selbst und hui! wie oft bin ich auf der Bühne schon auf die Welt gekommen. In diesem Moment, wenn eine Idee geboren wird, manchmal überlebt und manchmal gedanklich bereits wieder beerdigt wird. Kaum etwas bringt mich so sehr zum Gefühl, es allen zu zeigen, allen voran mir selbst.
Weiterlesen: Ein Porträt über Martina Hügi findet ihr hier. Die Website der Kabarettistin lautet https://www.martinahuegi.ch/
Die Serie #meinerstesmal
Dinge zum ersten Mal zu tun, ist immer etwas Besonderes. Der erste Schultag, der erste Kuss, die erste eigene Wohnung - fast jeder kann sich an diese ersten Male erinnern. Bei Kulturschaffenden ist so ein besonderer Moment - das Debüt. Oder das erste Mal vor Publikum stehen. Genau dieses Gefühl wollen wir mit der neuen Serie einfangen.
Was treibt diese Menschen an? Wie fängt man so was an? Und wie fühlt sich das an, wenn man mit einem künstlerischen Debüt, ganz gleicher welcher Sparte, vor ein Publikum tritt? Wenn man gewissermassen über sein eigenes Leben hinaus und in das Leben der anderen hinein tritt? Man plötzlich öffentlich wahrnehmbar wird, sich zeigt und, nun ja, heraus ragt?
Jeder kann mitmachen: Möchtest Du uns auch Deine Geschichte von Deinem ersten Mal erzählen? Dann mach das doch! Das Format ist aber offen für jeden Künstler: Wer seine Geschichte mit uns teilen möchte, schreibt einfach eine Mail mit seinem Text (auch Video- und Audiodateien sind möglich) an unsere Mailadresse: michael.luenstroth@thurgaukultur.ch
Alle Texte auf einen Blick: Wir sammeln alle Beiträge der Serie in einem Themendossier. Das findet ihr hier.
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