von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 21.05.2019
«Ein Leben ohne Musik wäre Barbarei»
Nicolas Altstaedt wusste früh, was er mit seinem Leben anfangen möchte. Seinen Plan hat er durchgezogen. Heute ist er einer der begehrtesten Cellisten und Dirigenten. Ab 7. Juni leitet er die Ittinger Pfingstkonzerte. Ein Porträt.
Damals war das vielleicht kein grosser Moment, aber er hatte doch einen entscheidenden Einfluss auf das Leben von Nicolas Altstaedt: Er ist gerade sechs Jahre alt, als er das erste Mal vor dem Cello seines Vaters steht und ab da ist klar, dass das eine lebenslange Beziehung werden wird zwischen dem Bub und dem Instrument. „Es stand auch nie zur Debatte, ob es jetzt dieses oder ein anderes Instrument wird. Das Cello war da, ich habe es ausprobiert und es war das, was mir am meisten Spass gemacht hat. Mir war klar, dass ich damit meine Zeit verbringen möchte“, sagt der heute 37-Jährige Cellist und Dirigent. Zweifel an diesem Weg habe es eigentlich nie gegeben: „Diese Momente, in denen man sich fragt: ‚Was mache ich nur mit meinem Leben?‘ hatte ich nie, bei mir das immer klar“, sagt Altstaedt.
Er hat es auf seinem Instrument weit gebracht. Nach dem Musikstudium in Basel und Berlin, diversen Auszeichnungen, etlichem Lob aus den Feuilletons, ist er gerade dabei, sich in der aller ersten Liga seiner Zunft zu etablieren. Seit vergangenen Herbst ist er Artist in Residence in der Hamburger Elbphilharmonie. In diesem Jahr plant er unter anderem eine Europatournee mit dem SWR Symphonieorchester, Konzerte mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin, dem Orchestre National de France und dem BBC Symphonie Orchestra. Und Festivalleiter des renommierten Lockenhaus Festival ist er seit 2012 ja auch noch. Damals bot ihm Gidon Kremer seine Nachfolge an. Dass er da noch Zeit fand, die künstlerische Leitung der Ittinger Pfingstkonzerte zu übernehmen, kann man wohl als Glücksfall bezeichnen.
„Musik hat etwas, das alle Menschen bewegen kann.“
Nicolas Altstaedt, Cellist
An einem Montagmorgen im Mai schaut er sich schon mal um in der Kartause Ittingen und stellt nebenher sein Programm für die 25. Pfingstkonzerte (7. bis 10.Juni) vor. Seine schwarzen Haare sind verwuschelt, er trägt schwarze Klamotten, auch seine Augen versteckt er vor der Sonne hinter einer dunklen Sonnenbrille, als er mit seinem weissen Cellokoffer über das Gelände der Kartause läuft. Altstaedt gilt in der Szene als leidenschaftlicher Grenzgänger: Er mag Alte Musik, er mag Neue Musik und den ganzen Rest dazwischen auch. Mit Schubladen und fein säuberlicher Einordnung in einzelne Kategorien kann er ohnehin wenig anfangen. „Musik ist Musik. Sie zeigt die Welt wie sie ist, aber auch was alles möglich sein kann“, sagt er dann. Und jeder Sparte nähert er sich mit der ihm eigenen Akribie und Ernsthaftigkeit. Ob er es in Worte fassen kann, was ihm die Musik bedeutet?
„Nein, eigentlich nicht“, sagt er erst und fängt dann doch an zu schwärmen: „Musik hat etwas, das alle Menschen bewegen kann. In ihr liegt eine grosse Kraft, eine grosse Macht.“ Seine Musik ist für ihn auch ein Erfahrungsraum: „Man kann über Musik am direktesten erfahren, was die Leute gefühlt haben als das jeweilige Werk geschrieben wurde. Wenn wir heute zum Beispiel Musik von Bach hören, empfinden wir etwas, was die Menschen auch damals gefühlt haben. Diese Verbindung über alle Zeiten und Sprachgrenzen hinweg, gehört für mich zu den grossartigsten Leistungen von Musik“, erklärt der Cellist.
„Seelisch kommt dieser Moment auf der Bühne einer Entblössung gleich.“
Nicolas Altstaedt, Musiker
Auf der Bühne versteht er sich als eine Art Medium für das Werk: „Man ist quasi nackt mit der Musik, man stellt sich immer in ihren Dienst, ist dabei aber auch sehr verletzlich. Seelisch kommt dieser Moment auf der Bühne einer Entblössung gleich.“
Als er im vergangenen September das erste Konzert als Artist in Residence in der Elbphilharmonie spielte, schrieb die Zeit: „Ganz beiläufig vollbringt Altstaedt direkt zu Beginn das Kunststück, gleichzeitig die Erwartungen an ihn hochvirtuos zu erfüllen und seine Zuhörer charmant, aber wirkungsvoll vor den kopf zu stossen.“ Genau solche Gegensätze sind es, die den Musiker interessieren. „Alle grossen Werke der Musikgeschichte vereinen grosse Gegensätze. Bei Mozart zum Beispiel finden sich Leichtigkeit und Tiefe gleichermassen. Solche Dinge faszinieren mich“, sagt der 37-Jährige.
Neugier, Wissensdrang und Entdeckerlust treiben ihn immer wieder an
Wenn er sich auf eine neue Aufführung vorbereitet, dann will er erstmal verstehen und begreifen: „Musik ist Sprache, Grammatik. Da liegt eine Struktur dahinter: Diese Struktur zu erfassen und sich zu eigen zu machen, das ist die erste Aufgabe bei der Beschäftigung mit Musik“, so Altstaedt. Danach gehe es dann darum, Dinge vielleicht auch weiterzudenken. Eine seiner Lieblingsübungen geht zum Beispiel so: „Ich nehme mit die ersten vier Takte eines grossen Werkes und überlege dann, wie ich es weiter geschrieben hätte. Dann erst entdeckt man die Weite des Horizonts, auf dem all die grossen Musiker vor uns komponiert haben.“
Musizieren ist für Nicolas Altstaedt längst eine innere Notwendigkeit - er kann gar nicht anders. „Es gibt noch so viel zu entdecken, so viele Dinge, die ich noch nicht kenne. Da kann ich schlicht nicht aufhören“, sagt er. Neugier, Wissensdrang, Entdeckerlust sind wohl seine stärksten Antriebe. So arbeitet er auch, wenn er wie jetzt bei den Ittinger Pfingstkonzerten ein Festival programmiert. „Für mich ist das wie ein Forschungsprojekt. Ich vertiefe mich dann gerne in Werke, die ich noch nicht kenne. Ich lese viel, lerne und versuche Zusammenhänge zu anderen Werken, zu anderen Komponisten zu entdecken“, so Altstaedt. Stück für Stück entstehe so ein Festivalprogramm.
Ob er sich ein Leben ohne Musik vorstellen könne? Nicolas Altstaedt sieht ernsthaft verschreckt aus, wenn man ihn danach fragt. „Nein, unvorstellbar für mich“, sagt er dann. Kurze Pause. Er sammelt sich. Und fügt dann noch an: „Ohne Musik, ohne Kunst wären wir eine barbarische Gesellschaft.“
Video: So klingt Nicolas Altstaedt
Ittinger Pfingstkonzerte: Das Programm im Überblick
Freitag, 7. Juni, 19 Uhr, Remise
Joseph Haydn: Streichquartett C-Dur Hob. III: 39 (Vogel-Quartett)
Helena Winkelmann: „Atlas“ Cellokonzert (Uraufführung)
Helena Winkelmann: Papa Haydn’s Parrot (Hommage á Joseph Haydn für Streichquartett; 2016)
Joseph Haydn: Cellokonzert C-Dur Hob. VIIb: 1
Die Musiker:
Quartett der Camerata Variabile Basel
Lockenhaus Festival Strings
Nicolas Altstaedt, Violoncello und Leitung
Samstag, 8. Juni, 12.15 Uhr, Remise
Johann Sebastian Bach: Suiten für Violoncello solo
Nr. 1 G-Dur BWV 1007
Nr. 2 d-Moll BWV 1008
Nr. 3 C-Dur BWV 1009
Der Musiker:
Nicolas Altstaedt, Violoncello
Samstag, 8. Juni, 15.30 Uhr, Kornschütte
Podiumsgespräch über Fragen des Komponierens in der heutigen Zeit mit der Komponistin Helena Winkelmann und dem künstlerischen Leiter Nicolas Altstaedt. Moderation: Andreas Müller-Crepon, Redaktor und Moderator bei Radio SRF 2 Kultur
Samstag, 8.Juni, 19 Uhr, Remise
Franz Schubert: Divertissement á la hongroise g-Moll für Klavier zu vier Händen D 818
Sándor Veress: Trio für Streicher
Béla Bartók: Klavierquintett C-Dur op.3
Die Musiker:
Alexander Lonquich, Klavier
Christina Barbuti, Klavier
Vilde Frang, Violine
Barnabás Kelemen, Violine
Lawrence Power, Viola
Katalin Kokas, Viola
Nicolas Altstaedt, Violoncello
Sonntag, 9. Juni, 12.15 Uhr, Remise
Zoltán Kodály: Duo für Violine und Violoncello op.7
Antonin Dvorak: Klaviertrio f-Moll op. 65
Die Musiker
Barnabás Kelemen, Violine
Nicolas Altstaedt, Violoncello
Vilde Frang, Violine
Alexander Lonquich, Klavier
Sonntag, 9.Juni, 17 Uhr, Remise
Franz Schubert: Fantasie C-Dur für Violine und Klavier D 934
Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 15 A-Dur op. 141
Die Musiker
Vilde Frang, Violine
Alexander Lonquich, Klavier
Nicolas Altstaedt, Violoncello
Johannes Fischer, Schlagzeug
Domenico Melchiorre, Schlagzeug
Sonntag, 9. Juni, 21 Uhr, Klosterkirche
Johann Sebastian Bach: Suiten für Violoncello solo
Nr. 4 Es-Dur BWV 1010
Nr. 5 c-Moll BWV 1011
Der Musiker:
Nicolas Altstaedt, Violoncello
Montag, 10. Juni, 11.30 Uhr, Remise
Johann Sebastian Bach: Suite für Violoncello solo: Nr. 6 D-Dur BWV 1012
John Tavener: The Protecting Veil
Tickets für alle Konzerte gibt es auf der Festival-Internetseite: www.kartause.ch/pfingstkonzerte
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Der vierte Neuanfang im siebten Jahr (19.12.2024)
- Adrian Bleisch gibt Galerie auf (16.12.2024)
- Die Qual der Wahl (16.12.2024)
- „Wir müssen wieder lernen, Widerspruch zuzulassen.“ (16.12.2024)
- Die Welt hinter dem Vorhang (10.12.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Porträt
- Klassik
Ist Teil dieser Dossiers
Kulturplatz-Einträge
Ähnliche Beiträge
Lametta mit Pfiff
Seit 21 Jahren gibt es das Blechbläserquintett Generell5. Endlich haben sie es geschafft, ihr erstes Weihnachtsprogramm „O Tannenbaum“ auf die Bühne zu bringen. mehr
Heisse Musiktipps für kalte Tage
Klangpause gefällig? Erholung vom Besinnlichkeits-Stress? Oder, wer braucht gerade gute Musik und ein Weihnachtslachen? Hier sind die Konzertempfehlungen unserer Musikkritikerin bis Weihnachten. mehr
Die Musikerklärer
Hört man Musik anders, wenn man weiss, wie sie entstanden ist? Das Orchester Divertimento hat ein spannendes neues Musikvermittlungsprojekt gestartet. mehr