von Andrin Uetz, 12.10.2021
Kippmomente

Über die Schönheit der Schieflage: Der Genfer Künstler Séverin Guelpa stellt gerade spektakulär in der Kunsthalle Arbon aus. (Lesedaue: ca. 3 Minuten)
Durch einen schweren Vorhang betreten die Besuchenden die abgedunkelte Kunsthalle. Aus einer schwarzen Wasserfläche – oder ist es ausgelaufenes Öl? – ragen Gebäudestrukturen, welche mit grellem, weissem LED-Licht umrahmt sind. Eine absinkende, verlasse Tankstelle bei Nacht? Ein von einem Erdrutsch entstelltes Rechenzentrum mit den Daten unserer Social-Media-Manie? Ein von den Fluten überraschtes Neubauprojekt irgendwo in Nordrhein-Westfalen?
Und ist da nicht ein dumpfes Knarren zu hören, wie bei einer langsamen Versenkung eines Schiffes…? Vor der Folie der diesjährigen Flutkatastrophen kann der Anblick dieser Strukturen im ersten Moment etwas irritieren. Es überkommt einen ein leichter Schauer. Gerade in Arbon, so nah am Ufer des Bodensees, ist eine latente Angst vor den alles überschwemmenden Wassermassen nicht von ungefähr.
Die Antithese zu Ólafur Elíasson
Der Genfer Künstler Séverin Guelpa interessiere sich besonders für das komplexe Verhältnis von Mensch und Natur, und das fragile Gleichgewicht zwischen Ökologie, Ökonomie und technischer Entwicklung, schreibt die Kuratorin Deborah Keller im Begleittext zur Ausstellung.
Die Installation in Arbon, so Guelpa im Gespräch, sei komplementär zu seiner Arbeit “Nature of providence” gedacht, welche derzeit im BBAX in Santa Monica, Kalifornien ausgestellt wird und sich mit dem Element des Windes beschäftigt. Das es dabei um mehr geht als plakative Statements zum Verhältnis von Mensch und Natur – beim Thema Wasser liegt der Vergleich mit der Intervention “Life” von Ólafur Elíasson in der Fondation Beyeler nahe – zeigt sich schon allein durch die Arbeitsweise von Guelpa.
Er arbeite mit dem, was lokal vorhanden ist, wobei dieser Prozess der Kollaboration ein wichtiger Bestandteil seiner Kunst sei. Das Holz und Baumaterial wurde in diesem Fall von der Firma Bressan Baut gratis zur Verfügung gestellt und kann zu einem grossen Teil weiter verwertet werden. “Man kann nicht eine Ausstellung zum Thema Ökologie machen, und dafür riesige Ressourcen verschwenden. Das wäre ein Widerspruch in sich”, so Guelpa.

Die Erhabenheit des Untergangs
Guelpas Arbeit auf ein Statement für Nachhaltigkeit und Ökologie zu reduzieren, würde der Installation nicht gerecht werden. Vielmehr gelingt es ihm, in der Kunsthalle diesen prekären Moment zu inszenieren, indem ein Schiff gerade unterzugehen droht, oder ein Haus, gar ein ganzer Landstrich in sich zusammenbricht, von den Fluten mitgerissen wird.
Die Strukturen sind so angewinkelt, dass sie immer gerade zu kippen scheinen, um darauf im Abgrund des tiefschwarzen Wassers zu verschwinden. Auch die Pfeiler der Kunsthalle selbst sind von diesem Wasser umgeben, und so entsteht der Eindruck, dass auch die Kunsthalle darin zu versinken droht.
Die Besuchenden erleben also einen Moment des wohligen Schauers, und erfreuen sich an dem, was die Ästhetik der Romantik als das “Erhabene” (vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft) feierte. Die Betrachter einer stürmischen See wähnen sich am sicheren Ufer, und so wird die Naturgewalt zu einem ästhetischen Phänomen.
Spiegelglatte Oberflächen, bodenlose Tiefen
Durch den starken Kontrast des grellen LEDs und der dunklen Wassermassen entsteht eine spiegelglatte Oberfläche, und trotz der Schieflage eine perfekte Symmetrie. Das gibt der Installation eine eigentümliche Ruhe, welche im Kontrast zu der inszenierten Gefahr steht. Es ist wie nicht ganz klar, ob nun der Untergang schon stattgefunden hat oder nicht, ob die Katastrophe schon überstanden ist, oder sich erst ankündigt.
Vielleicht kann diese Situation auch als Allegorie auf die allgegenwärtige Smartphones gelesen werden, mit denen ebensolche Katastrophenbilder aus der sicheren Distanz konsumiert werden, und welche, wenn sie ausgeschaltet sind, genauso spiegelglatt und dunkel und still da liegen; Abgrund und Oberfläche zugleich. Es besteht die Gefahr sich darin zu verlieren.
Es hilft der Schritt zurück. Es braucht einen Sinn fürs Gleichgewicht. Um nicht selbst hineinzufallen. In das tiefschwarze Nass.



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