von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 30.06.2023
Das Anti-Langeweile-Programm
Lasst uns was gemeinsam machen! Das ist die zentrale Devise des Projektes „Was brauchen wir?“ von Ira Titova und Isabelle Krieg. Damit stehen sie am 7. Juli im Finale des Wettbewerbs „Ratartouille“. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Sonntags in Kreuzlingen unterwegs zu sein, kann frustrierend sein. Die Strassen sind wie leergefegt, Stille liegt über der Stadt, wer hier Lebendigkeit sucht, kann verzweifeln. „Ich habe mich das wirklich oft gefragt: Wo sind all die Menschen an einem Sonntag? Wo verstecken sie sich? Vor allem die jungen Menschen?“, sagt Ira Titova, Soziologin aus Kiew. Der Krieg in ihrer Heimat hat sie an den Bodensee gespült. Seither versucht sie sich zurechtzufinden.
Der gebürtigen Fribourgerin Isabelle Krieg ging es ganz ähnlich als sie vor vier Jahren aus Dresden nach Kreuzlingen kam: „Es gibt hier Dinge, die ich schätze, aber auch Sachen die mir fehlen: mehr junge Menschen, mehr nette Bars, Lebendigkeit, Überraschungen“, sagt die Künstlerin. Als Ira Titova per Zufall ihre Nachbarin wurde und sie sich kennenlernten, merkten sie schnell, dass sie ähnlich ticken. Sie schmiedeten einen Plan: Lasst uns Kreuzlingen lebenswerter machen!
Auf der Suche nach den Menschen
Genau das versuchen sie jetzt mit ihrem Projekt „Was brauchen wir? mit dem sie am 7. Juli im Finale des Ratartouille-Wettbewerbs der Kulturstiftung stehen. „Wir wollen damit einen Dialog starten, um uns und die Menschen hier im Thurgau besser kennenzulernen und zu verstehen “, erklärt Isabelle Krieg ihre Idee an einem Dienstagmorgen Anfang Juni in einem Café am Kreuzlinger Hafen. Mit den 100’000 Franken von der Kulturstiftung könnte die Idee Realität werden.
Der erste Schritt dazu - sie wollen mit den Menschen hier ins Gespräch kommen. Mit einem kleinen Stand ziehen sie los: Ans Stadtfest, in den Park, vor den Horst Klub, aber auch zu den einförmigen Wohnblocks, zu den Geflüchteten und Schutzbedürftigen, an den Waldrand. Wenn man so will, wird das die Suche nach dem Leben in einer sonst oft sehr ruhigen Stadt.
Grosse Frage: Was würdest du ändern, wenn du ein:e Superheld:in wärest?
Im Gepäck haben Titova und Krieg dann vier Fragen mit denen sie das Gespräch mit den Mensch eröffnen wollen: 1. Ruhe oder Aktivität? 2. Stell dir vor, du bist ein:e Superheld:in: Was würdest du ändern in deiner Stadt? 3. Teil mit uns dein Glücksrezept! 4. Sonntags sind die Strassen hier leergefegt. Wo versteckt ihr euch? „Damit die Menschen Lust haben unsere Fragen zu beantworten, bieten wir ihnen etwas dafür: Isabelle wird sie zeichnerisch porträtieren, während ich sie befrage“, sagt Ira Titova. Und: Wer keine Lust die Fragen zu beantworten, kann auch eine Geschichte erzählen, die mit dem Jetzt und Hier im Thurgau zu tun hat.
An dem Punkt muss man kurz innehalten. Ob das für sie als Geflüchtete vor dem Krieg nicht schwierig sei so etwas wie ein Glücksrezept in diesen Zeiten zu formulieren? Ira Titova denkt kurz nach und sagt dann: „Meine Situation ist kompliziert, das stimmt. Aber ich glaube, Glück kommt, wenn du ruhig bist. Ich lerne erst, glücklich zu sein.“ Gut möglich, dass Projekt und Initiatorin hier zum für beide bestmöglichen Zeitpunkt aufeinander treffen.
Pop-up-Labore als Begegnungsorte
Aus den gesammelten Antworten und Geschichten entsteht der nächste Schritt - die Eröffnung verschiedener Pop-up-Labore in leerstehenden Geschäften und Räumen in Kreuzlingen. Dort werden die Geschichten dokumentiert, eine Bar eröffnet, die glücksvermehrend wirken soll und es wird Veranstaltungen geben: „Diese wählen wir entlang der gesammelten Antworten aus, aber natürlich müssen sie auch uns Spass machen“, sagt Isabelle Krieg und lacht. Was dort stattfinden könnte ist: Stand-up-Comedy, Konzerte und die Gründung eines neuen interkulturelle Chores.
Letztlich gehe es vor allem darum, spannende Menschen zusammenzubringen und dann gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen. Schliesslich sei das etwas, was uns mit am glücklichsten macht - im Austausch mit anderen Menschen zu sein, inspiriert zu werden und selbst zu inspirieren, findet die Soziologin Ira Titova. Ausserdem seien die Pop-up-Labore weitere gute Gelegenheiten, um neue Geschichten und Antworten auf ihren Fragebogen zu bekommen.
Von der Soziokultur zur Kultur - eine Ausstellung am Ende
Als dritter Schritt steht am Ende des Projektes eine Ausstellung. „In dieser Ausstellung wollen wir alles, was wir in den Gesprächen erfahren haben auf künstlerische Weise transformieren“, sagt Isabelle Krieg. Gezeigt werden sollen dann Ergebnisse der Umfrage, aber auch Arbeiten von regionalen oder hierher geflüchteten Künstler:innen, „die wir um Werke gezielt zu unserer Frage bitten oder die im Laufe des Projektes mit uns zusammengearbeitet haben“, erklärt die Künstlerin.
Und: Aus all den gesammelten Geschichten soll am Ende auch ein Buch entstehen, das in den Kulturräumen in Kreuzlingen und Konstanz ausliegen kann. So könnten die Ergebnisse nachhaltig gesichert werden. Und: Die Grenzstadt ist erst der Anfang, das Projekt könnte nach einer erfolgreichen Premiere, auch in weiteren Orten des Kantons stattfinden.
Humor ist wichtig. Und das Feiern.
Für die beiden Initiatorinnen ist die Projektentwicklung auch Neuland. „Wir haben beide so etwas noch nicht gemacht und wissen auch nicht, was auf uns zukommt in den Gesprächen, aber wir haben beide grosse Lust darauf es umzusetzen. Das ist cool“, sagt Isabelle Krieg. Letztlich sei das Projekt auch eine Einladung zur kulturellen Eigeninitiative, findet die Künstlerin. „Dabei sind uns Leichtigkeit und Humor, Experiment, Feminismus und Ökologie wichtig“, sagt Krieg. „Und das Feiern“, ergänzt Ira Titova.
Am Schönsten wäre, da sind sich beide einig, wenn etwas Gutes von der Idee auch nach der Umsetzung bliebe und weiterlebe - eine neue Bar, ein neuer Chor oder auch nur das Gefühl, dass wir es selbst in der Hand haben, unsere Umgebung lebenswerter zu gestalten.
Der Wettbewerb «Ratartouille» und das Finale
Der Wettbewerb: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau hat „Ratartouille“ vor zwei Jahren erfunden. Damit sollten innovative Veranstaltungsformate gefördert werden. Das Gewinnerprojekt erhält 100`000 Franken von der Kulturstiftung. Ziele des Wettbewerbs sind es neue Ansätze, „die verschiedene Sparten wie Kunst, Musik, Tanz, Literatur miteinander verbinden, das professionelle Kulturschaffen des Kantons Thurgau beleben, Netzwerke über den Kanton hinaus eröffnen sowie experimentellen Charakter haben“ zu unterstützen. Bei der ersten Ausgabe hat das Projekt „Promenaden“ von Richard Tisserand und Reto Müller gewonnen. Mehr dazu gibt es hier.
Die Wettbewerber: Drei Projekte wurden für das Finale ausgewählt: San Keller und sein Festival der Vorgärten, Ira Titova und Isabelle Krieg stellen in Kreuzlingen die Frage „Was brauchen wir?“ und suchen so nach neuen Gemeinschaften, sowie „Sijuuu“ von Andreas Müller und Florian Rexer. Das Ziel hier: Gespräche initiieren. Im Zentrum steht dabei ein Bildschirm, den die beiden an verschiedenen Orten im Kanton aufbauen wollen. Auf diesen Bildschirmen sollen „auf bestimmte Kontexte zugeschnittene Theatersituationen“ erzeugt werden. Alle drei Projekte stellen wir bei thurgaukultur.ch vor dem Finale vor.
Wer mehr Details zu den Finalist:innen sucht: Die Projektdossiers der drei verschiedenen Ideen sind auch öffentlich:
Das Finale: Insgesamt drei Ideen (siehe oben) treten im Finale gegeneinander an. Es findet statt am Freitag, 7. Juli, ab 17:30 Uhr, im Presswerk Arbon. Dort werden alle Projektinitiator:innen ihre Ideen vorstellen. Am Ende entscheidet das Publikum darüber, welcher Vorschlag die 100’000 Franken der Kulturstiftung erhält. Wer live dabei sein will: Anmeldungen sind noch bis 4. Juli möglich:
https://www.kulturstiftung.ch/anmeldung
Transparenz-Hinweis: Die Kulturstiftung des Kantons Thurgau ist eine von zwei Aktionär:innen der gemeinnützigen Thurgau Kultur AG, die thurgaukultur.ch betreibt. Alle Details zur Struktur und Finanzierung von thurgaukultur.ch findet ihr hier.
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