von SAITEN, 03.05.2019
«Letschti Rundi» vor der Renovation

Das Theater St.Gallen kündigt die letzte Spielzeit im Haus vor der bis 2022 dauernden Renovation an. Und stösst schon einmal ein paar Türen auf, Richtung Weltmusik und Weltreflexion.
Von Peter Surber
Es werden wieder Mauern gebaut, Homosexuelle diskriminiert, Nationalismen gepflegt, die Menschenrechte werden mit Füssen getreten, die Gletscher schmelzen – also raus aus der Komfortzone. Was kann Theater da tun, wie soll es reagieren? Es könne zumindest «Denkräume aufmachen» und «phantastische, aber auch düstere Parallelwelten» auftun, antwortet Schauspielchef Jonas Knecht an der Spielplanpräsentation des Theaters St. Gallen auf die von ihm selber gestellte Frage.
Terror, Migration, Nationalismus
Weitere Antworten dürften die Stücke der Spielzeit 2019/20 geben. Beispielhaft für die zeitgenössische Handschrift des Sprechtheaters ist der Auftakt in der Lokremise: «Die Anschläge von nächster Woche» heisst das Stück des österreichischen Autors Thomas Arzt, 2018 in Heidelberg uraufgeführt und als Schweizer Erstaufführung in St.Gallen zu sehen. Hintergrund sind die Terroranschläge von Paris über Nizza bis Berlin, Hauptfigur ist ein Mann namens Stummer, der seltsamerweise jeweils am Tatort war, und das Thema heisst: Wie geht die Gesellschaft mit Angst um?
Oder: «Der Prozess» nach Franz Kafka, die Geschichte jenes Josef K., der zum Tod verurteilt wird von einer unbekannten Gerichtsinstanz, ohne zu wissen warum. Knecht inszeniert die Bühnenfassung des Romans in Koproduktion mit der Figurentheater-Abteilung der Hochschule Ernst Busch in Berlin (die er selber seinerzeit absolviert hatte), als Grossprojekt mit Menschen und Puppen.
Unter dem Titel «Die Gastfremden» schreibt die kroatisch-schweizerische Bühnenautorin Ivna Zic im Auftrag des Theaters ein Stück über Migration und Integration, mit Fokus auf jene «Gastarbeiter» oder Flüchtlinge, die seit vielen Jahren in der Schweiz sind. Das Theater will damit seine Auseinandersetzung mit politischen Tagesthemen fortsetzen, nach «Das Schweigen der Schweiz», «Lugano Paradiso», «Spekulanten» oder dem Stück «Verminte Seelen» zum Thema der administrativen Versorgungen, das demnächst, Ende Mai Premiere hat.

Am Schluss kommen alle Theaterfiguren der letzten Jahre zurück
Oder schliesslich: «Die Orestie». Der Klassiker von Aischylos, vor rund zweieinhalbtausend Jahren geschrieben, sei unvermindert aktuell, um über Rechtsstaatlichkeit, Schuld und Sühne nachzudenken, sagt Jonas Knecht.
Humorvoller, aber auch mit beklemmenden Bezügen zum neuen Nationalismus wird «Sein oder Nichtsein» von Nick Whitby nach dem Film von Ernst Lubitsch aus dem Jahr 1942 daher kommen, inszeniert von Hausregisseurin Barbara-David Brüesch. Das Kinder- und Jugendtheater bringt eine Adaption von «Alice im Wunderland» und kooperiert erneut mit dem Festival «Jungspund», das im Zweijahresrhythmus 2020 wiederum stattfindet.
Und dann folgt die «Letschti Rundi, ein theatralischer Kehraus»: Quer durchs ganze Theatergebäude werden noch einmal all die Figuren zum Leben erweckt, die hier in den letzten 50 Jahren auf der Bühne standen – von Hamlet bis Galilei, von Maria Stuart bis Vreneli. Premiere ist am 28. Mai 2020, danach fällt der Vorhang für zwei Jahre.
In der Oper: Von Covent Garden nach St.Gallen
Die Oper nimmt es weniger tagesaktuell und profitiert noch einmal von den Normalbedingungen, bevor sie in der übernächsten Spielzeit ins Provisorium auf dem Unteren Brühl ausweichen muss. Der 2020 scheidende Operndirektor Peter Heilker kündigt für seine letze Spielzeit klingende Namen an. Dazu zählt die an den grossen europäischen Häusern inszenierende Regisseurin Vera Nemirova, die für Dvoraks Märchenoper «Rusalka» gewonnen werden konnte. Oder ein Ensemble von Barockspezialisten um den Countertenor Terry Wey und die Sopranistin Jeanine de Bique in Händels «Giulio Cesare in Egitto», mit dem St.Galler Orchester auf modernen Instrumenten, aber «historisch informiert», wie Heilker verspricht. Weiter auf dem Programm: Gounods «Faust», Offenbachs «Schöne Helena» und das neuste Musical-Eigengewächs: «Wüstenblume» nach der Lebensgeschichte von Waris Dirie.
Die aufregendste Entdeckung dürften die «Lessons in Love and Violence» sein, nach «Written on Skin» erneut eine Oper des britischen Komponisten George Benjamin. Sie erzählt die legendäre Dreiecksgeschichte um König Edward II. aus dem 14. Jahrhundert mit zeitgenössischen Mitteln neu und ist nach der Uraufführung in Covent Garden 2018 erstmals überhaupt zu sehen.

Alles neu im Tanz
Neue Ästhetik, neues Ensemble, neue Gäste, alles neu: Das verspricht der neue Tanzchef Kinsun Chan, Nachfolger von Beate Vollack und in St.Gallen bisher als Ausstatter in Erscheinung getreten. Er choreografiert zum Auftakt «Rain», eine Uraufführung nach einem Gedicht des Amerikaners Henry Longfellow, und dann im Grossen Haus einen dreiteiligen Abend zu den Farben schwarz, grau und weiss unter dem Titel «Coal, Ashes and Light». Die Livemusik steuert unter anderem der phänomenale Schlagzeuger Fritz Hauser bei. Erstmals überhaupt in Europa zu sehen wird die australische Choreographin Stephanie Lake sein, die ihr 2018 in Melbourne uraufgeführtes Stück «Colossus» nach St.Gallen bringt.
Festspieloper 2020 ist eine Ausgrabung von Giuseppe Verdi: «Stiffelio» erzählt von der unmöglichen Liebe eines evangelischen Pfarrers, der sich zwischen Eifersucht und geistlicher Pflicht aufreibt – ein Stück, das laut Ankündigung zuerst von der Zensur und dann von den Theatern selber abgelehnt wurde. Den Tanz in der Kathedrale kreiert der bulgarische Choreograf Dimo Kirilov Milev: Gegen den Stromheisst der Titel.

Konzertprogramm: Russisch-baltischer Schwerpunkt
Im Konzertprogramm der Tonhalle fällt die starke Dominanz russischer und baltischer Musik auf – kein Zufall, sondern dem seit einem Jahr wirkenden litauischen Chefdirigenten Modestas Pitrenas zu verdanken. Ihn lobte Konzertdirektor Florian Scheiber als Musiker, der sich mit Genauigkeit und Bescheidenheit in den Dienst der Musik stelle. Unter anderem kommen der litauische Pianist Lukas Geniušas oder die lettische Geigerin Baiba Skride nach St.Gallen. Das Sinfonieorchester spielt zudem zwei CDs ein: zum einen mit der Sopranistin Marina Rebeka und französischen Opernarien, zum andern mit der russischen Pianistin Anna Fedorova und Klavierwerken von Rachmaninow. Mit diesem Programm gastiert das Orchester in Biel, im Rahmen des wiederbelebten Austauschs unter den führenden Schweizer Orchestern, sowie im Februar 2020 im Concertgebouw Amsterdam – für Florian Scheiber eine Sternstunde in einem der akustisch weltbesten Säle.
Weitergeführt wird zudem das «Fenster zur Weltmusik», unter dem etwas grosspurigen Titel «grenzenlos»: In dieser Spielzeit gastiert im Meisterzyklus das Gurdijeff Ensemble aus Armenien, das Konzert findet am 10. Mai statt. Klassische Musik aus Persien erhält in der kommenden Saison, Ende November einen Platz in der Tonhalle, mit einem Ensemble um Kiya Tabassian (Setar) und Kayhan Kalhor (Kamancheh).
Eine weitere Exklusivität folgt im Januar 2020: Die sechs Stradivari-Instrumente der in Flawil beheimateten Habisreutinger-Stiftung gehen, wie alle zwei Jahre einmal, auf Tournee. Sechs Mitglieder der Berliner Philharmoniker spielen auf ihnen drei der (raren) Spitzenwerke des Sextett-Repertoires von Strauss, Dvorak und Tschaikowsky.
Hinweis: Diese Text erschien zuerst auf www.saiten.ch
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