von Rolf Müller, 11.07.2014
Maximal reduzierte "Carmen"
Eine Wohltat: „Carmen“ als Theater mit Musik, nicht als pompöse Oper. Das See-Burgtheater brillierte gestern an der Premiere in Kreuzlingen mit dem Kern der Geschichte: Liebe, Irrsinn, Tod.
Rolf Müller
Für einmal prügelte sich niemand um Plätze in der ersten und der zweiten Reihe. Die sind nämlich nicht vollständig überdacht, und ein Dach über dem Kopf konnte man gestern bei der Premiere von „Carmen“ des See-Burgtheaters im gleichnamigen Park in Kreuzlingen gut gebrauchen.
Wagnisse mit System
14 Grad zu Spielbeginn, leichter Dauerregen bis zur Pause, danach trockener, aber stetig kühler. Ironie des Lebens, dass die, die sich normalerweise die begehrtesten Ränge leisten können, diese nun schmähen, meinte vor Spielbeginn Autorin Andrea Gerster. „Alte Kommunistin“, erwiderte Regisseur Leopold Huber heiter, was Gerster in beiden Teilen ebenso gut gelaunt glatt zurückwies.
Micaëla (Lotti Happle) kämpft um ihre Liebe. (Alle Bilder: Mario Gaccioli)
Ein Wagnis sei es, sagte Huber vor dem Premierenpublikum, das allseits bekannte und oft gespielte Stück „Carmen“ nicht mit Opernsängern, sondern mit singenden Schauspielern auf die Bühne zu bringen. In seinem oberösterreichischen Akzent klang das genau so nach Understatement, wie es die Hubersche Art ist: ironisch und gelassen heiter. Der Träger des letztjährigen Thurgauer Kulturpreises ist ja nicht bekannt dafür, dass er Wagnisse scheuen würde.
Reduktion gewinnt
Vorneweg: Die Inszenierung nach der Novelle von Prosper Merimée ist ein Genuss und ein voller Erfolg, gefeiert vom Publikum mit minutenlangem Schlussapplaus. Dabei gekonnt auf den Kern reduziert; keine pompöse, ewig dauernde Oper mit schwülstigem Flitter, einer Hauptfigur mit obligatem Luftfächer und schmetterndem Orchester wie schon so oft gesehen. Sondern - gewagt und gewonnen – eine packende Theateraufführung mit nur mehr zwei Schauspielerinnen und vier Schauspielern, deren Spielfreude und -intensität das Regenwetter vergessen liessen.
„Carmen“ in der Inszenierung des See-Burgtheaters zeigt auf hohem Niveau exemplarisch, was Merimée ursprünglich gemeint hat: Das Spiel des Lebens, die schicksalshaften Verknüpfungen von Begegnungen, den Irrsinn der Liebe und was er mit den Menschen macht. Und das sinnigerweise in einer alten, heruntergekommenen Stierkampfarena als Bühne, auf der oben ein ebensolcher thront, gleichsam Sinnbild für die kommenden Kämpfe, die die Handelnden als Tiere zeigt, bereit zum Kampf ums Überleben, jeder mit seinen Mitteln, letztlich erfolglos. - Jeder und jede zahlt drauf.
Kann sich den Reizen nicht entziehen: Zugnia (Daniel Ris).
Eben lief es noch gut. Da steht ein ungebetener Gast vor der Tür.
Der Liebe verfallen
Da ist die Hauptfigur Carmen, gespielt von der jungen Zürcher Schauspielerin Laura Angelina Palacios. Für einmal nicht als laszives Luder, sondern als unabhängige, starke Frau inszeniert, die sich als Zigeunerin nach dem Lustprinzip nimmt, was sie will. Und sich fügt, wo sie muss. Don José, narzisstisches Muttersöhnchen, von Unbill in der Heimat in die Armee geflüchtet, verfällt ihr. Eindrucksvoll, wie Alexander Peutz die Metamorphose vom prinzipientreuen Soldaten zum liebeskranken Mörder gibt, der laufend die zahlenden und zahlreichen Liebhaber der zigarrenrauchenden Carmen („Du verdirbst mir so das Geschäft!“) meuchelt.
So muss Don Josés militärischer Vorgesetzter Zungia (Daniel Ries) brutal sein Leben lassen, und das unmittelbar nach dem Beischlaf. Keine Chance hat auch Carmens überraschend auftauchender Mann, mindestens ein Bankräuber, ebenfalls gespielt von Daniel Ries. Mehr Glück hat der Torero Escamillo (Erich Hufschmied), der das Messer besser zu handhaben weiss als sein Kontrahent. Kneipenwirt Lillas Pastia - schmierig und opportunistisch, hervorragend gegeben von Christian Intorp – lebt von den leichten Mädchen, ist aber zur richtigen Zeit nicht am falschen Ort.
Das Ende: Carmen (Laura Angelina Palacios), Don José (Alexander Peutz).
Stoisch in den Tod
Praktisch unversehrt bleibt auch Micaëla, die bäuerliche Jugendliebe von Don José und Gesandtin seiner Mutter. Innig verkörpert von der Thurgauerin Lotti Happle (ein Gesangstalent!), bleibt diese erfolglos im Bestreben, ihren Liebsten, der willenlos in den Abgrund taumelt, zur Abkehr von Carmen und zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen.
Und ja, am Schluss sterben Carmen und (angedeutet) auch Don José von seiner Hand. Carmen hat’s gewusst, es stand in den Karten. Die Unabhängige ergibt sich stoisch ihrem Schicksal.
Exzellente Liveband, guter Gesang
Ob dramatisch oder heiter: Immer präsent ist die exzellente siebenköpfige Liveband, die die Zigeunerstücke von Georges Bizet dermassen perfekt unperfekt swingen lässt, dass es eine Freude ist. Verantwortlich ist auch dieses Jahr wieder der Mann an den Tasten, Bandleader Volker Zöbelin.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles, teils seit Jahren beim See-Burgtheater, teils junge Talente wie Laura Angelina Palacios und Lotti Happle, spielen miteinander auf Augenhöhe. Die gezeigten Abgründe der Seele, die Liebespein, die verzweifelten Dialoge überzeugen. Und singen können sie auch. Nicht alle auf Opernniveau. Aber allemal fürs Theater. So, wie es vorgesehen war. Wagnis bestanden. Bestnote. „Carmen“ ist ein Muss in dieser Theatersaison.
Die "Zigeunerband" unter Leitung von Volker Zöbelin.
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Zum Vergleich:
"Freiheit geht über alles": Tagblatt/TZ, 12.7.2014, Print/E-Paper
"Liebe und anderes": Südkurier, 13.7.2014
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Aufführungen, jeweils 20.30 Uhr an folgenden Tagen:
Fr 11.7., Sa 12.7., Di 15.7., Mi 16.7.,Do 17.7., Fr 18.7., Sa 19.7.
Di 22.7., Mi 23.7., Do 24.7., Fr 25.7., Sa 26.7. (So 27.7. Ausweichtermin),
Di 29.7, Mi 30.7., Do 31.7., Sa 2.8. (So 4.8. Ausweichtermin), Di 5.8., Mi 6.8., Do 7.8.
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