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von Brigitta Hochuli, 04.08.2010

Gotthelfs Spinne: Kritik II

Gotthelfs Spinne: Kritik II
Die Schwarze Spinne nach Jeremias Gotthelf am Freitag 16. Juli 2010 | © FOTO GACCIOLI KREUZLINGEN

Brigitta Hochuli

Noch bis zum 22. August spielt das See-Burgtheater in Kreuzlingen „Die Schwarze Spinne“. Regisseur Leopold Huber hat nach eigenen Worten „tief in die theatralische Kiste gegriffen“. Mir hat das gefallen. Aus Gotthelfs Vorlage, die allein wiederzulesen sich lohnt, eine moderne Geschichte zu formen, ist eine grosse, eigenständige Leistung. Einmalig ist die Kulisse im Mais, der scheint‘s doppelt so schnell wächst wie anderswo. Durchwegs imposant und rasant ist das Spiel aller Beteiligten.

Einwände gab‘s, die in aussergewöhnlich langen Gesprächen über die Aufführung unmittelbar danach und auch später geäussert wurden. Sie betreffen den Sex und die Religion. Waren die Lüsternheiten des Teufels oder der Teufelin nicht des Vulgären zu viel? Muss der Sündenbock am Marterkreuz unbedingt mit seinen Hoden zu sehen sein? Damit gehe die Darstellung für Gläubige an die Grenze der Gotteslästerung, sagten die einen; unter die Gürtellinie, sagten andere. Die anderen waren durchwegs Frauen, und ich nehme mich da nicht aus. Beschäftigt hat mich auch die von Goran Kovacevic vertonte Todesfuge. Den Holocaust mit Klaumauk mischen und in ein konfessionell aufgeladenes, verkommenes Milieu versetzen – darf man das?

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Ich habe Radioprediger und Diakon Matthias Loretan von der katholischen Pfarrei St. Ulrich Kreuzlingen um einen Kommentar gebeten, denn er macht „Die Schwarze Spinne“ in Gottesdiensten zum Thema. Seine Argumentation ist ausführlich und soll in ihrer Länge hier nicht zur Gewohnheit werden. Aber es lohnt, sich ihr zu stellen.

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Zur Kritik I geht's hier.

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ELF KOMMENTARE

1. Matthias Loretan, Diakon | 04.08.2010, 17.46 Uhr 
Bis zur Pause wird der Gotthelf-Stoff als Volkstheater mit eindrücklichen Aufzügen zügig vorangetrieben. Vor allem nach der Pause werden der Inszenierung die Grenzen des Volkstheaters und des Sagenstoffes allerdings zu eng. Der Regisseur will mehr. Mit Anspielungen werden aktuelle oder zeitgeschichtliche Bezüge gesucht zu den Fragen, welche Gotthelfs Sagenstoff umtreiben: Was ist die Spinne? Was ängstigt die Menschen? Wie kommt das Böse in die Geschichte? Wie zerstört das Böse die Dorfgemeinschaft? Die aktuellen Anspielungen im Stück auf Fremdenfeindlichkeit, Unterdrückung, Ausgrenzung, nationalsozialistischen Terror, (kapitalistische) Gier und Sexualität bleiben allerdings eigenartig abstrakt. Die Angst änstigt nicht wirklich. Der Lust an der Angst und dem Spass am Untergang stellt sich kaum etwas Verbindliches entgegen. Das Theater verkommt zu einer Revue mit Bildern vom zwanghaft Bösen.
Wenig zimperlich geht die Inszenierung mit religiösen Handlungen wie Gebeten und Sakramenten um. Im Gegensatz zu Gotthelf werden die religiösen Zeichenhandlungen nicht nur erzählt, sondern auch dramatisiert. Genüsslich setzt der Regisseur Leopold Huber auf die Komik der Situation und sorgt für sichere und derbe Lacher: Das Taufkind wird mit Wasser überschüttet und ein Wedel Weihwasser bekommt auch das Publikum ab.
Fatal erweist sich die dramaturgische Entscheidung, im ersten Teil dem Pfarrer, im zweiten Teil dem Teufel die Rolle des Erzählers, ja Spielmachers zuzuweisen. Die epischen und damit auch distanzierenden Elemente, welche die Betrachter einen reflektierenden Abstand zum Geschehen auf der Bühne einnehmen liessen, werden damit aufgegeben. In der Bildhaftigkeit vermengen sich Licht und Schatten, Gut und Böse, Leben und Tod. So ist es nur konsequent, dass in der ersten Szene nach der Pause der Priester und der Teufel es anzüglich miteinander treiben, wenn sie dem Song der aufmüpfigen Aussenseiterin Christine zuhören. Hier werden Grenzen verwischt, so dass alles möglich und alles banal wird. Hier wird die Milch schwarz. Und in der Folge vermag nichts mehr zu wehren, was heraus ragen oder heraus führen könnte aus der Banalität des Bösen: keine Kirchenlieder, nicht Celans Todesfuge, auch nicht die Hoffnung, dass die Täter nicht immer über die Opfer triumphieren mögen. Die Revue mit den Bildern der Angst und des Todes nimmt ihren Lauf.
Von woher könnte jetzt noch Rettung kommen? Gibt es noch etwas Heiliges und Heilendes? Was bleibt, wenn alle nur noch an ihre eigene Rettung denken? Und in der Not alle bereit sind, ein unschuldiges, wehrloses Opfer dem Teufel, dem Realismus der Verhältnisse zu opfern? – Die Inszenierung dreht sich im Kreise und weiss keinen Ausweg. Es ist nachvollziehbar, wenn sie Gotthelfs frommen Moralismus ausschlägt. Aber verspielt hat das Sommertheater auch die Möglichkeit der leisen Töne und der epischen Ironie. Hier rächt es sich, dass die Inszenierung des Religiösen fast gänzlich dem Klamauk preisgegeben wurde. Selbst das tiefe Geheimnis christlichen Glaubens, dass Erlösung auch dann möglich sein kann, wenn alle einander der Schuld verdächtigen, wird verspielt. Der Menschensohn, der die lastende Schuld der Verhältnisse auf sich lädt und die Opferrolle bzw. die Rolle des Sündenbocks freiwillig auf sich nimmt, gerät im Stück zur blasphemischen Posse. Der Bubenstreich im Maisfeld verspielt damit die Hoffnung christlichen Glaubens, dass Unterbrechungen der Imitationen von Angst und Gewalt (in den schlechten Verhältnissen also) auch dem Menschen möglich wären.


2. Leopold Huber | 06.08.2010, 10.46 Uhr
 Liebe Frau Hochuli,
mich freut jeder Kommentar, der sich ernsthaft, kritisch und ohne Vorurteil mit dem Theater beschäftigt, denn das Theater beschäftigt sich mit unserer Welt. Auf Ihre Frage, was das Theater darf, möchte ich antworten: Theater soll mutig sein. Der Teufel, bei Gotthelf mit der Regiebemerkung „zwischert lüstern“ eingeführt, wird von Astrid Keller als „Schmierenkomödiant“ dargestellt, vulgär ist das meiner Meinung nach nie. Aber manchmal witzig, denn dem Teufel wird die Ironie und das Lachen zugeordnet. Zu Ihrer Frage nach der Natur der Bauchseite des Sündenbocks eine Gegenfrage: Wäre Ihrem ästhetischen Empfinden mit einem Lendenschurz für den Bock gedient? Zur Todesfuge von Celan: Die Todesfuge beschreibt (trotz Adornos Äusserung, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben) das Grauen des Holocaust, das ich dem Grauen vor der tödlichen Spinne assoziativ beigestellt habe, wie das durch Terror erzeugte Böse in einer Gemeinschaft wütet.
Herzlich Leopold

3. Huber
Leopold Huber | 06.08.2010, 12.43 Uhr 
Sehr geehrter Herr Diakon,
Danke für Ihre Auseinandersetzung mit der „Spinne“ aus Ihrer Sicht. Ich möchte Sie fragen, was Sie daran anzüglich finden, wenn der Darsteller des Pfarrers und die Darstellerin des Teufels quasi privat aneinander gelehnt sitzen und ein Pausenbier trinken – ? Richtig gesehen haben Sie, daß es mir nicht um eine dualistische Trennung von „Gut und Böse“ geht, sondern um das Janusköpfige des menschlichen Wesens, das helle und dunkle Seiten hat. Die Parabel der Geschichte zeigt uns das Drama eines Kollektives. Wir sehen, wie durch Terror eine Gemeinschaft zerstört wird, wie eine Gesellschaft auseinanderfällt, wie Moral, Ethik, Solidarität und Menschlichkeit verschwinden. Ja, und auch der Glaube. Der Glaube, der ja aus den Menschen kommt, bleibt wie die anderen Werte nicht unangetastet. Daß die durch Terroreinwirkung sich auflösende Gemeinschaft in ihrer Angst Rituale umdreht, um über den Aberglauben des „Wendens“ das Böse loszuwerden, ist ein Ausdruck des zunehmenden Wahnsinns, und zum Scheitern verurteilt. Die Gemeinschaft hätte sich gegen die Zumutungen der Unterdrückung wehren müssen. Eine Aufgabe des Theaters ist es, sich mit den verdrängten dunklen Seiten der menschlichen Seele auseinanderzusetzen. Indem sich das Theater mit dunklen Geschichten beschäftigt, funktioniert es als gesellschaftliche Kläranlage. Am Schluss der Aufführung haben Sie, verehrter Herr Diakon, wahrscheinlich aus Verärgerung nicht mehr genau hingesehen. Sonst hätten Sie bemerkt, dass die Hoffnung, der Glaube und die Liebe siegen. Die ergreifendste Szene der ganzen Aufführung ist doch, wenn die junge Mutter um Hilfe zu Gott betet, und aus Liebe zu ihrem Kind, dem letzten Menschen, unter Einsatz ihres Lebens die Spinne einsperrt und das Böse bannt.
Herzlich Leopold Huber


4. Georg Ermatinger | 07.08.2010, 11.51 Uhr
 Zeichen des bewegenden Theaters – Gratulation! Die schwarze Spinne
Sehr verehrtes Kollegium und Ensemble des Schauspiels “Die schwarze Spinne” am Seeburgtheater Kreuzlingen.
Vorerst vielen herzlichen Dank für den faszinierneden Theaterabend.
Als Liebhaber der Kleinbühne bin ich bewegt, berührt, beeindruckt und begeistert vom Theaterabend in meine Gegenwart zurückgekehrt.
Die Dramaturgie bewegt mich in der neuzeitlichen Zeichnung des klassischen Konfliktes von Macht, Angst und Abhängigkeit. Die Inszenierung der unangenehmen Gefühle von Leiden und Opportunismus trifft den ethisch-moralischen Nerv stellenweise recht hart. Das Rauhe und Rohe sich dann ohne schnell reparierendes Schwenken erst im Verlauf und zu Gunsten der konsequenten Handlung in Anmut und Hoffnung rettet.
Die Inszenierung berührt mich in den fein verpackten, wie auch mutig aufgegriffenen parallelen Themen der Neuzeit wie z. B. die Faszination und Last der Mobilität durch das Auto, die mutigen Aussagen zum Fremdsein, oder die Rollenverschiebungen zwischen Frau und Mann. Die szenische Geduld für die vollständige Aussage berührt als Geschenk für den Zuschauer. Es werden keine Abkürzungen oder vereinfachten Passagen gemacht. In diesem Schritt und Tempo fühle ich mich als Zuschauer nicht nur als Gast oder Sponsor einer Selbstinszenierung sondern als ernst genommener Bestandteil des Theaters.
Die Regie beeindruckt mich in der konzeptuellen Ausarbeitung des Einstiegs und des Ausstiegs, des Spielortes, die Einbettung in die Naturbühne in ihrer Ausrichtung zur Umgebung, der Vernetzung in Geschichte und der Anspielung auf aktuelle Gegebenheiten. Die interessante Ausweitung von der einst engen, lokalen Geschichte nach Jeremias Gotthelf auf die neue Weite der soziokulturellen Vielfalt stellt die Gegenwart in die Mitte (Sprache der Requisiten und der Musik).
Die Handlung begeistert mich in der tragenden und doch anspruchsvollen Dramaturgie, welche an der Kulisse der noch oder wieder festgefahrenen Hierarchien zu kratzen vermag. Die Verschiebungen der Machtstellen werden in der klassischen Vorgabe des Stücks verstanden und mit neuen Ebenen durch die moderne Übersetzung verknüpft. So werden die Verschiebungen der Rolle zwischen Mann und Frau oder ethnische Ereignisse von Machtverhältnissen der Neuzeit deutlich. Die überschaubare Grösse der angelegten Naturbühne mit trefflicher Besetzung von beruflichen Schauspielern und Laiengruppe macht mich bereits bei der Anrede des Pastors an das Publikum sogleich als Zuschauer zum spontan willkommenen Bestandteil des Geschehens. Das gute Gelingen der technischen Lösungen für Ton und Licht laufen mit den Effekten der Naturbühne (Wind, Abendsonne und Seeburg) in faszinierender Weise und ohne Übertreibungen Hand in Hand.
Zeichen des bewegenden Theaters.
Entgegen dem sonstigen Finden einer Identifikationsfigur in der Handlung erlebte ich mehr eine Übertragung der Gefühlslagen auf mich, als dass ich eine Projektion hätte machen können. Die Rollen wurden durch die schauspielerische Leistung im Kontext des ganzen Stücks „paritätisch“ gelebt. Ich habe Ekel und Sympathie für alle Rollen empfunden, was der Ungewähr und dem Zwiespalt des Grundthemas, der Angst, entspricht. Somit wird der Regisseur voll und ganz einem allfälligen Anspruch auf Authentizität zur Vorlage des als moralisch geltenden Urhebers Jeremias Gotthelf in Bezug zu seiner Zeit der Aufklärung gerecht.
Der Regisseur greift ein scheinbar vergangener Klassiker auf und überträgt in freundlicher Ernsthaftigkeit das Thema auf die Matrizen der Gegenwart.
Die schauspielerische und musikalische Inszenierung von Leopold Huber und Goran Kovacevic “Die schwarze Spinne” nach Jeremias Gotthelf besticht in der getreuen Handlung in Verbindung der gelungenen Verwendung von neuzeitlichen Mitteln des bewegenden Theaters. Die Erkennung der trefflich klischierten Charakteren verlangt nach einer guten Beobachtungsgabe und einem scharfen Verständnis für die zur Schau gehörenden- bzw. zum Spiel gegebenen Rollen.
Ich wünsche Ihnen, dem ganzen Ensemble des Seeburgtheaters viel Freude und Kraft für die Spielzeit mit dem “lecker-bissigen Theaterstück”!


5. Alex Bänninger | 10.08.2010, 15.41 Uhr 
“Die schwarze Spinne” in der Inszenierung von Leopold Huber hat mich begeistert. Der Nachhall pro und contra gefällt mir. Er ist in der sorgfältigen, ausführlichen und fairen Argumentation der Beweis für lebendiges und anregendes Theater. Die Aufführungen finden nicht nur statt, sondern ereignen sich. Die Einwände sind der Widerstand, der das Lob erst zum Fliegen bringt. Nimm also, lieber Leopold, die Publikumsstimmen hoch erfreut zur Kenntnis und öffne für alle Beteiligten die Champagner-Flaschen.

6. 
Kantonsrat Arnold Schnyder | 10.08.2010, 18.57 Uhr 
Ich habe mich etwas über die hohen Eintrittspreise gewundert.
Am Schluss war mir der Grund klar.
“Der Teufel trägt Prada”.
Und das muss bezahlt werden!

7. 
Brigitta Hochuli | 10.08.2010, 19.44 Uhr
 Gesprächsangebote
Die hier angestossene Frage zum Umgang des See-Burgtheaters mit der Religion findet eine öffentlich mündliche Erörterung. Das ist erfreulich und spannend! Am Dienstag, 17. August, 16.45, eröffnen Regisseur Leopold Huber und Diakon Matthias Loretan im Zelt beim Theaterschauplatz das Gespräch.
Das heisst aber nicht, dass an dieser Stelle nicht weiterdiskutiert werden kann. Auch thurgaukultur.ch macht ja ein Gesprächsangebot. So bin ich Leopold Huber noch eine Antwort auf die Frage schuldig, ob meinem ästhetischen Empfinden ein Sündenbock mit Lendenschurz besser gedient wäre als jener mit den Hoden. Ich kann diese Frage nicht mit ästhetischen Kriterien beantworten. Bei der Modemarke des Teufels fiele mir das eindeutig leichter. Aber eines ist sicher: Ein Bock mit Lendenschurz wäre mehr als allenfalls ironisch, er wäre der Gipfel der Perversion.
Wir alle haben Bilder des Gekreuzigten mit Lendenschurz im Kopf. Ein Bock mit diesem Kleidungsstück würde mehr noch als einer in seiner natürlichen Gestalt die hiesige christliche Geisteshaltung mit all ihren weit, weit zurückliegenden philosophischen Prämissen in ihren (vermeintlichen?) Grundfesten in Frage stellen. Dies zu tun ist legitim. Denn es gibt Auswüchse.
Aber dass SIE das wollen würden, lieber Herr Huber, denke ich nicht. Sie selbst geben ja im Stück den Blick auf das höchste Gute im Menschen, an den Sieg von Hoffnung und Liebe frei. Und das ist es, woran die Menschen hier inklusive Kantonsrat Schnyder wohl nach wie vor mehrheitlich glauben.

8. 
Leopold Huber | 14.08.2010, 01.51 Uhr
 Sehr geehrter Herr Kantonsrat Schnyder.
Es freut mich, dass Sie zum exclusiven Kreis der kulturinteressierten Kantonsräte gehören. Machen Sie im Grossen Rat einen Vorstoss, die chronisch unterfinanzierten Kultureinrichtungen produktionsdeckend auszustatten, sodass Kultur als Grundnahrungsmittel für die Seele zum Nulltarif genossen werden könnte. Der Kanton Thurgau würde dann bei den Kulturausgaben nicht als Schlusslicht flimmern, sondern als Leuchtturm in der Schweiz strahlen. Die sündhaft teuren Kostüme für den Teufel haben die Eintrittspreise nicht in die Höhe getrieben, die hat unsere Kostümbildnerin aus dem Opernhaus Zürich als Entwicklungshilfe erhalten.


9. Leopold Huber | 14.08.2010, 02.06 Uhr 
Liebe Frau Hochuli,
vergeblich bemühen wir uns das Glück zu beschreiben, das so schwer zu fassen ist. Die Medien leben vom Drama, von der schlechten Nachricht. Dass Sie bei der Medienarbeit, die oft mit den Schattenseiten und den Mißständen hantieren muss, Ihr weiches Herz nicht verloren haben und empfänglich sind für das Gute im Menschen, den Sieg von Hoffnung und Liebe, finde ich schön.


10. Manuela Eichenlaub | 21.08.2010, 18.05 Uhr 
Die Aufführung der “Schwarzen Spinne” des See-Burgtheaters hat mit berührt, bewegt, beschäftigt, zum Nachdenken und dazu gebracht, Gotthelfs Erzählung zu lesen. Ich kannte das Werk bisher nicht, weder im deutschen Gymnasialcurriculum noch im Germanistikstudium bin ich ihm begegnet. Es ist eine wunderbare Entdeckung für mich und das Original NACH Leopold Hubers Interpretation kennen zu lernen, fand ich besonders reizvoll. Die öffentliche Debatte über die Dramatisierung des See-Burgtheaters in diesem Forum und “live” im Zelt habe ich mit grossem Interesse verfolgt. Besonders spannend und wichtig für meinen Zugang zum Stück fand ich die Äusserungen von Matthias Loretan.
Gotthelf schreibt in seinem Vorwort zum Band “Bilder und Sagen aus der Schweiz”, in dem “Die scharze Spinne” 1842 erstmals erschien: “Glätter freilich mögen vielen Beschreibern der Schweiz die Worte vom Munde gehen, ehrlicher kamen sie aber wohl keinem aus dem Herzen. Auf Glätte hat aber auch der Schweizer nie besondere Ansprüche gemacht, wird sie kaum je machen [...].”
Daran habe ich mich erinnert, als Leopold Huber vergangene Woche im Zelt sagte, er misstraue dem Glatten, daraus entstünden seine “Geschmacklosigkeiten”. Über Geschmack (und sein Fehlen) lässt sich bekanntlich streiten. Ich freue mich an der lebhaften Auseinandersetzung mit einem Stück Weltliteratur. Die Reaktionen der Theaterbesucher sind sicher deutlicher ausgefallen, weil es im Stück einige grelle Szenen gibt. Für manchen mag die Grenze des “guten Geschmacks” stellenweise überschritten worden sein (ich selbst kam bei der Kreuzigungsszene ins Zweifeln). Aber gerade die Provokationen führen meiner Meinung nach zu einer tieferen Auseinandersetzung, sie machen es nötig, eine persönliche Haltung dem Gezeigten gegenüber zu entwickeln. Und das ist genau das, was gutes Theater will und soll.
Die Inszenierung der “Schwarzen Spinne” des See-Burgtheaters ist rau im besten Sinne des Wortes. Morgen Abend werde ich die Derniere besuchen und mich noch einmal in das Spannungs(mais)feld zwischen Idylle und Grauen begeben, das Gotthelf aufgetan und Leopold Huber überzeugend auf die Bühne resp. Holzschnitzel gebracht hat. Ich freu mich drauf!


11. Bernhard Weishaupt | 22.08.2010, 15.53 Uhr 
Klar hat die Kirche keine Freude an der Aufführung der Schwarzen Spinne. Umso mehr Freude müsste Leobold Huber an der Kirche haben. Hat diese nun doch noch eine Diskussion losgetreten, welche sich Huber mit seiner Inszenierung fast verbaut hätte. Natürlich findet sich auch heute noch immer jemand, der sich darüber ärgert, wenn religiöse Inhalte nicht nach den katholischen Spielregeln (1. nur von der geistlichen Obrigkeit und 2. schon gar nicht vom Volk) behandelt werden. Andere Figuren am Kreuz sind nun beileibe nichts neues mehr; und die sichtbaren Testikel – na, ja, das haben wir Männchen halt so an uns. Theater braucht Tabubrüche, darf auch unter die Gürtellinie zielen und auch mal verärgern. Und Theater muss und kann schon gar nicht auf die Meinung von Autoritäten und auch nicht auf religiöse Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Tabubrüche sollen jedoch nicht mit Klamauk verwechselt werden und müssen inhaltlich motiviert sein.
Die Inszenierung der Schwarzen Spinne durch Huber leistet jedoch für die Diskussion der Religion, des Guten und des Bösen, genau betrachtet recht wenig. Zu sehr bricht er die zu Beginn des Stückes sehr dichte Atmosphäre mit zu vielen Stilelementen und vor allem mit Regieeinfällen, über die manche aus verschiedenen Gründen gelacht haben dürften. Ich fand etwa den Spruch ‚der Teufel trägt Prada‘ oder die Bezeichnung ‚Wixer‘ für den Teufel durch ein Ungeborenes direkt peinlich. Durch solche Regieeinfälle wird nicht die Figur des Teufels vielfältiger oder ins Lächerliche gezogen, sondern die Inszenierung des Teufels selbst lächerlich. Natürlich kann diese Figur auch ambivalent dargestellt werden; durch die Gags wurde sie vielmehr beliebig.
Fragen blieben mir nach der Aufführung dann vor allem in dieser Hinsicht: Warum wird der Ritter als Person und nicht etwa die Willkür der Obrigkeit der Lächerlichkeit preisgegeben? Warum hampelt der Teufel rum und kündigt dann auch noch die Pausenwurst an? Warum muss die Spinne, die doch so gut gespielt wird, plötzlich das Blut aus Röhrchen trinken, etc.?
An dieser Stelle muss Diakon Loretan recht gegeben werden, wenn er das Revueartige der Aufführung kritisiert – auch wenn seine Institution in dieser Hinsicht ebenfalls ein beachtliches Repertoire aufzuweisen hat. Ich habe nichts gegen Revuetheater. Doch fraglich ist, ob dieses die von Leopold Huber beabsichtigte Auseinandersetzung mit dem Stoff leisten kann. Es wäre schön gewesen, wenn er sich bei einem Stück wie der Schwarzen Spinne für das eine oder andere entschieden hätte. Und bitte jetzt nicht das Argument bringen, dass dem Kreuzlinger (Provinz-)Publikum halt tiefergründigeres Theater nur dann verabreicht werden kann, wenn man ihm dazu ein paar Brocken Humor der Marke Schenkelklopfer verabreicht.
Schade, denn die Mittel zu einem noch grösseren Theatererlebnis waren gegeben: gute bis sehr gute Schauspielerleistungen von beachtlicher Intensität, sehr gute Kostüme, ein toller Chor und eine schlicht umwerfende Bühne, welche ein Theaterhaus so nie bieten kann.

 

 

 

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