von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 10.08.2017
Wer ist jetzt hier irre?
Volles Haus bei der Premiere der Schlossfestspiele Hagenwil. Die Zuschauer erleben eine unterhaltsame Inszenierung von Dürrenmatts „Die Physiker“ ohne grosse Überraschungen, aber mit starken Schauspielern
Tatsächlich ist das ja eine bizarre Vorstellung: Ein hoch dekorierter Wissenschaftler mit besten Karriereaussichten lässt sich freiwillig ins Irrenhaus sperren, weil er um die Gefährdung der Welt durch seine Ideen weiss. Als ob sie seine Sicht einer skrupellosen Welt bestätigen wollten, senden die Geheimdienste Ost und West jeweils einen Spion - getarnt als durchgedrehte Physiker - in eben jene Nervenheilanstalt, um das Wissen für sich zu gewinnen. Alle drei verlieren den Kampf, weil sie am Ende von der wahrlich irren Anstaltsleiterin ausgetrickst werden.
Das ist in wenigen Worten die Handlung von Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“. Seit der Uraufführung in Zürich 1962 wurde das Stück unzählige Male gespielt. Jetzt haben die Schlossfestspiele Hagenwil und ihr künstlerischer Leiter Florian Rexer den Stoff auf ihre Freiluftbühne im Wasserschloss Hagenwil gebracht. Es ist bereits die achte Produktion des Sommertheaters und gemessen an der Politikerdichte im Premierenpublikum am Mittwochabend in einem Nicht-Wahljahr, kann man wohl sagen: Die Festspiele haben sich einen gewissen Ruf erarbeitet.
Die Eckbühne entpuppt sich als Gewinn
Das liegt auch an dem speziellen Ort. Das kleine Wasserschloss ist eigentlich nicht für Theater gemacht, der Innenhof ist so schmal, dass die Bühne (Peter Affentranger) um die Ecke gebaut werden muss. Was auf den ersten Blick als improvisiert gilt, entpuppt sich aber schnell als Gewinn: Die verschiedenen Ebenen des Bühnenbildes erlauben ganz andere Einblicke als bei einem gewöhnlichen Guckkasten-Theater. Los geht alles an diesem Abend mit einer Polizeisirene. In einer privaten Nervenheilanstalt ist schon wieder eine Krankenschwester ermordet worden. Kriminalinspektor Richard Voss (Hans Rudolf Spühler) rückt zu den Ermittlungen aus und soll klären wie es zu der Tat kam. Das Tatwerkzeug zumindest ist klar - die Schnur einer Stehlampe. Auch der Täter steht fest: Ernst Heinrich Ernesti (Mischa Löwenberg), Patient im Sanatorium, der sich für Albert Einstein hält. Trotzdem bleiben Fragen, die Voss nicht auf Anhieb klären kann. Und so entfaltet sich langsam die Geschichte und das Figurenkabinett des Stücks. Neben Ernesti sitzen auch Herbert Georg Beutler (Herbert Fischer) und Johann Wilhelm Möbius (Jan Opderbeck) in der Psychiatrie. Der eine, weil er sich für Isaac Newton hält, der andere, weil er behauptet ihm sei König Salomon erschienen und diktiere ihm aufsehenerregende Erfindungen. In der Mitte des Stücks haben alle drei ihre Krankenschwestern ermordet. Die Frage ist nur - warum?
Starke Vorstellung: Mathilde von Zahnd (Bigna Körner) und Kriminalinspektor Richard Voss (Hans Rudolf Spühler) im Zwiegespräch. Bild: daniela huber fotografie, Schlossfestspiele Hagenwil
Erst im zweiten Akt enträtselt sich das Rätselhafte allmählich. Möbius bekennt, dass er gar nicht verrückt sei, sondern sich nur für die Narrenkappe entschieden habe, um seine Weltformel, das System aller möglichen Erfindungen, vor skrupellosen Politikern zu schützen. Beutler und Ernesti, die um die Verwirrung komplett zu machen, eigentlich Eisler und Kilton heissen, haben weniger hehre Motive für ihren Einzug ins Sanatorium - ihre Geheimdienste haben sie geschickt, um sich Möbius’ Wissen anzueignen. Jetzt stecken sie in der Klemme, weil Möbius auf keinen Fall aus der Anstalt will: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei, nur im Irrenhaus kann man noch denken.“ Und gerade als die drei in ihrem heroischen Selbstopfer zugunsten des Weltfriedens schwelgen, müssen sie erleben, wie alles zusammenbricht: Anstaltsleiterin Mathilde von Zahnd hatte sie längst durchschaut und ausgetrickst. Sie war es, die die Fäden der Handlung die ganze Zeit in den Händen hielt: „Ihre Gespräche wurden abgehört, Ihr wart bestimmbar wie Automaten“, sagt sie. Die von Möbius vernichtet geglaubten Manuskripte seiner Erfindungen hatte sie kopiert und macht sie nun in einem Weltkonzern zu Geld - ohne Skrupel auf Verluste. Und die eben noch wie Helden wirkenden Physiker stehen als Deppen da und müssen für immer in der Psychiatrie bleiben.
Die behutsame Regie ist Stärke und Schwäche zugleich
Die Boshaftigkeit siegt also am Ende. Auch das Kapital. Und die Verantwortung des Wissenschaftlers? Es wird klar, dass der Einzelne trotz eigener Opferbereitschaft die Menschheit nicht vor dem Untergang retten kann, wenn so viele Interessen im Spiel sind. Eine Erkenntnis, die heute so aktuell ist wie vor 55 Jahren. Was macht man nun daraus in einer gegenwärtigen Inszenierung? Festspiel-Regisseur Florian Rexer entscheidet sich dafür, dem Autor seine Stimme zu lassen und verzichtet auf übertriebene Modernisierungen: Zu Beginn des zweiten Teils tönen Nachrichten aus den Lautsprechern, die seltsam vertraut klingen, aber aus der Zeit des Kalten Kriegs stammen. Die Schlussszene unterlegt Rexer mit David Bowies wunderbarem „Space oddity“, aber das war es dann auch.
Diese behutsame Regie ist einerseits Stärke des Abends, weil sie den Text strahlen lässt und darauf vertraut, dass Dürrenmatts Worte so aktuell sind, dass sie keinen Firlefanz brauchen. Andererseits ist das gerade am Anfang aber auch eine Schwäche, weil das Stück aufgrund der heute fast betulich wirkenden Erzählweise eine Weile braucht, um in Fahrt zu kommen. Und in manchen Momenten wirkt Dürrenmatts irre Welt im Vergleich zu den Verrücktheiten unserer Tage geradezu normal. Aber das ist weder ein Problem der Inszenierung, noch des Stücks an sich, sondern eher eines unserer Zeit.
Drei Schauspieler ragen aus dem Ensemble heraus
Getragen wird die Premiere allerdings vor allem von den Schauspielerinnen und Schauspielern. Aus einem insgesamt guten Ensemble ragen vor allem drei Akteure heraus. Hans Rudolf Spühler ist grossartig als alternder Kriminalinspektor Richard Voss. Er gibt seiner Figur Tiefe und gleichzeitig eine gewisse Leichtigkeit, Witz und Altersmilde. Ganz stark, wie er mit seiner Bühnenpräsenz auch den anderen Spielern Sicherheit gibt. Dass man „Fräulein Doktor Mahilde von Zahnd“ alles zutraut, ist ein Verdienst der facettenreichen Spielkunst von Bigna Körner. Ihr gelingt es neben der skrupellosen Seite ihrer Figur auch durchscheinen zu lassen, weshalb sie wurde wie sie ist. Und schliesslich Jan Opderbeck als Johann Wilhelm Möbius. Aussergewöhnlich, wie es ihm gelingt, scheinbar mühelos die Klaviatur der (gespielten) Verrücktheiten seines Möbius zu bedienen - in den lauten, wie den leisen Tönen. Vom Premierenpublikum gibt es auch dafür und die gesamte Leistung des Ensembles langen Applaus.
Termine: „Die Physiker“ sind bei den Schlossfestspielen Hagenwil noch bis zum 9. September zu sehen. Das Stück geht rund zwei Stunden (reine Spielzeit). Es gibt eine Pause. Kartenreservationen sind hier möglich.
Anfahrt: Hier finden Sie das Wasserschloss Hagenwil:
Video: Regisseur Florian Rexer im Interview
Weitere Bilder aus der Inszenierung (alle Bilder: daniela huber fotografie, Schlossfestspiele Hagenwil)
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