Seite vorlesen

Neuer Blick auf alte Zeiten

Neuer Blick auf alte Zeiten
Haben die Ausstellung erdacht (von links): Dora Schneider, Ralph Röber, Mareike Hartmann und Dorothea Weltecke | © Michael Lünstroth

Noch bis Ende Oktober zeigt das Archäologische Landesmuseum Konstanz eine Schau über das jüdische Leben am Bodensee im Mittelalter. Ziel ist es auch, mit falschen Vorstellungen aufzuräumen.

Von Michael Lünstroth

Wer etwas über Sex und Crime im Mittelalter erfahren will, dem empfiehlt sich ein Blick in die Frevelbücher der Stadt Schaffhausen. Hier sind nicht nur zwischenmenschliche Konflikte zwischen Bürgerlichen und Prostituierten dokumentiert, fast alle Frevel gegen die Regeln von Stadt und Pfarrgemeinde sind hier verzeichnet. Wer mit wem? Wer hat gegen was verstossen? Auch potenzielle Hexen werden hier geoutet, wie man heute wohl sagen würde. Neben derlei Rotlichtgeschichten kann man aus den Büchern aber auch Interessantes über das Zusammenleben von Christen und Juden im Mittelalter herauslesen. "Von beiden offiziellen Seiten wurde eigentlich eine soziale Segregation gewünscht, der Alltag war aber oft anders, viel durchmischter", sagt Dorothea Weltecke, Professorin für die Geschichte der Religionen. Lange Jahre forschte und lehrte sie an der Universität Konstanz, inzwischen ist sie Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt.  Die Frevelbücher sind nun Teil einer Ausstellung, die Weltecke mal wieder an den Bodensee führte. Gemeinsam mit Studierenden der Universität Konstanz und den Fachleuten des Archäologischen Landesmuseums (ALM) hat sie sich an die Erforschung des jüdischen Erbes in der Region gemacht.

"Zu Gast bei Juden. Leben in der mittelalterlichen Stadt" heisst das Ergebnis dieser Arbeit, die den bisherigen Wissensstand zum Thema kritisch hinterfragt. "Die mittelalterliche Welt wird oft nur als christliche Welt gesehen, dabei war diese Welt durchaus multireligiös. Die jüdische Geschichte kommt in der Nachbetrachtung oft nicht vor, geschweige denn der gemeinsame Alltag in der Stadt. An ihrer Stelle sind falsche Vorstellungen gewachsen", erklärt Weltecke den Hintergrund der Schau. Anders als angenommen lebten die Juden der Bodenseeregion zum Beispiel keineswegs in Ghettos, sondern oft im Zentrum der Städte und hatten christliche Nachbarn. Ziel der Ausstellung ist es dabei vor allem, die Kulturgeschichte des Bodenseeraums um den jüdischen Blickwinkel zu erweitern. Es geht darum zu zeigen, dass es bis zur Vetreibung der Juden aus den Städten im 15. Jahrhundert ein gemeinsames kulturelles Erbe gab.

Im Zentrum: Die Nachbildung einer jüdischen Wohnstube aus Zürich

Damit wagen die Ausstellungsmacher einen Perspektivwechsel: Nicht wie Christen auf Juden schauten, steht im Zentrum, sondern wie Juden ihre Zeit sahen, wie sie lebten, wie sie dachten. Um das zu illustrieren gibt es zahlreiche wertvolle Exponate aus ganz Europa, vor allem hebräische Prachthandschriften, die in Konstanz oder benachbarten Städten hergestellt wurden. Für die Ausstellung kommen sie nun erstmals alle wieder zurück an ihren Ursprungsort. Geschichte wird aber auch begehbar gemacht durch die Nachbildung einer mittelalterlichen jüdischen Zürcher Wohnstube. "Bild- und Schriftquellen sowie materielle Überreste werden als Spurenlese erfahrbar und vermitteln einen Eindruck vom Miteinander und von der wiederkehrenden Gewalt in der Welt der Bodenseestädte", erläutern die Ausstellungsmacher diesen inszenatorischen Kniff. Insgesamt wird die Schau in sechs Kapitel erzählt: "Aussehen und Kleidung", "Wirtschaft", "Wie war der Alltag?", "Wohnen", "Religion" und "Verfolgung und Tod". Letzteres macht deutlich, dass bei aller Betonung des Miteinanders auch die grausamen Episoden des Zusammenlebens nicht ausgeblendet werden. Hören kann man hier unter anderem wie ein Vater über den Verlust seiner Tochter klagt. Das Mädchen war bei einem Pogrom 1332 in Überlingen getötet worden. 

Dorothea Weltecke ist überzeugt, dass ihre Ausstellung ein erster Ansatz für ein Umdenken im bisherigen Geschichtsverständnis sein könnte. "Wer die Scheinfakten überprüft, merkt schnell: Gotische städtische Kultur am Bodensee ist nicht einfach christlich. Sie ist eine Kultur von Christen und Juden. Diese gotische städtische Kultur war komplex und zugleich von Herausforderungen geprägt, in denen sich die Menschen der Gegenwart womöglich gespiegelt finden mögen", hofft die Historikerin.

Ausstellungsort: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Benediktinerplatz 5, D-78467 Konstanz

Öffnungszeiten: Ganzjährig Dienstag-Sonntag, feiertags 10 bis 18 Uhr, montags geschlossen. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm (siehe PDF am Ende des Textes)

Eintrittspreise: 7 Euro, ermässigt 5 Euro, Kinder (6-18 Jahre)  1 Euro, Familien 14 Euro, Schüler- und Jugendgruppen 1 Euro pro Person, 2 Begleitpersonen frei. Gruppenführungen auf Anfrage möglich.

Katalog: Zur Ausstellung ist ein umfangreiches Begleitbuch im Stadler-Verlag entstanden. ISBN: 978-3-7977-0734-5 Preis: 19,80 Euro.

Weitere Bilder aus der Ausstellung:

Eine der Prachthandschriften, die in der Ausstellung zu sehen sind. Bild: Michael Lünstroth

Detail einer jüdischen Wandmalerei, Brunngasse 8 in Zürich. Bild: Büro für Archäologie der Stadt Zürich

Talmud-Fragment, Radolfzell; Bild: Pfarrarchiv Münster Unserer lieben Frau, Radolfzell

Darmstädter Haggadah Cod. Or.8 Fol.37v; Bild: Landes- und Universitätsbibliothek Darmstadt

konstanz.alm-bw.de

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Wissen

Kommt vor in diesen Interessen

  • Vorschau
  • Geschichte
  • Archäologie

Werbung

Fünf Dinge, die den Kulturjournalismus besser machen!

Unser Plädoyer für einen neuen Kulturjournalismus.

Unsere neue Serie: «Wie wir arbeiten»

Unsere Autor:innen erklären nach welchen Grundsätzen und Kriterien sie arbeiten!

15 Jahre Kulturkompass

Jubiläumsstimmen und Informationen rund um unseren Geburtstag.

#Kultursplitter im Dezember/Januar

Kuratierte Agenda-Tipps aus dem Kulturpool Schweiz.

Wir suchen Verstärkung!

Wir suchen eine/n SocialMedia-Redaktor:in in einem Pensum von cirka 20 Prozent. Weitere Informationen hier...

"Movie Day": jetzt für 2025 bewerben!

Filme für das 12. Jugendfilm Festival können ab sofort angemeldet werden. Einsendeschluss der Kurzfilme für beide Kategorien ist der 31.01.2025

21. Adolf-Dietrich-Preis 2025

Bewerbungsschluss: 28. Februar 2025

Ähnliche Beiträge

Wissen

Erfmotingas

1300 Jahre Ermatingen. Das Buch zum Jubiläum ist mehr als eine blosse Chronik, es ist eine eigene Liebeserklärung an die Geschichte eines Ortes. mehr

Wissen

Wissen macht glücklich

«Wie wir arbeiten» (2): Kaum jemand schreibt schon so lange für uns wie Inka Grabowsky. Für sie ist das Gefühl, wenn der Groschen fällt, unbezahlbar. mehr

Wissen

Schauplätze des Zweiten Weltkriegs im Thurgau

Die Frauenfelder Sonderausstellung «Fliegeralarm – Konfliktarchäologie im Thurgau» begibt sich auf Spurensuche. mehr