von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 15.04.2021
Die Angst vor dem Jo-Jo-Effekt
Ab Montag dürfen Kinos und Theater wieder öffnen, Veranstaltungen mit bis zu 50 Personen sind drinnen erlaubt. Aber ist das wirklich eine gute Nachricht bei einer schweizweiten 14-Tage-Inzidenz von über 300? (Lesedauer: ca. 3 Minuten)
Es ist wie ein Seufzer in 280 Zeichen: Die Genfer Virologin Isabella Eckerle hat ihren Unmut über die ab Montag in der Schweiz geplanten Lockerungen der Corona-Massnahmen via Twitter deutlich gemacht: „Die heute beschlossenen Lockerungen bei steigenden Fallzahlen mit #SARSCov2 COVID19 #B117 sind nicht nachzuvollziehen und werden unnötig Kranke und Tote zur Folge haben. Und in dieser dritten Welle trifft es die Jungen. Unverständlich im Angesicht der #Impfungen“, schrieb die Expertin am Mittwochabend um 21:38 Uhr.
Mitten in steigende Corona-Infektionszahlen hinein hatte der Bundesrat ein paar Stunden zuvor weitere Öffnungsschritte beschlossen. Demnach dürfen ab Montag, 19. April, unter anderem Freizeit- und Kulturbetriebe auch drinnen wieder öffnen. Innen-Veranstaltungen sind mit bis zu 50 ZuschauerInnen erlaubt (bzw. ein Drittel der Kapazität), draussen dürfen sogar bis zu 100 ZuschauerInnen zusammenkommen. Restaurants und Bars dürfen in ihrer Aussengastronomie ebenfalls wieder Gäste begrüssen.
Übersicht: Das sind die neuen Massnahmen
Kulturlobby ist froh über beschlossene Öffnungen
In der Kulturbranche werden die Lockerungen weitgehend positiv aufgenommen. Die Taskforce Culture erklärte in einer Medienmitteilung: „Wir alle brauchen Begegnungen, wir brauchen soziale Treffpunkte wie Kulturanlässe, Restaurants oder Bars. Daher sind Anlässe mit 50 Personen im Innen- und 100 Personen im Aussenbereich ein wichtiger erster Schritt.“ Die Lobbygruppe bemängelt aber auch, dass es für grössere Anlässe wie Festivals nach wie vor keine Perspektive gebe. Zudem mache die Vorgabe von maximal ein Drittel Belegung es für viele mittlere und kleine Veranstaltungsorte faktisch unmöglich zu veranstalten.
Insgesamt zeigt man sich aber zuversichtlich: „Mit der schrittweisen Öffnung wird der Kultursektor beweisen können, dass er taugliche Schutzkonzepte hat, bei denen die Sicherheit der Besuchenden, der Auftretenden und der ganzen Crew im Vordergrund stehen. Dies wiederum wird dem Bundesrat die Möglichkeit geben, rasch weitere Öffnungsschritte zu beschliessen“, so die Taskforce Culture.
Die dritte Welle ist längst da
Tatsächlich sehen die aktuellen Zahlen für die Schweiz allerdings nicht besonders gut ist. Die Zahl der Covid-Erkrankungen steigt täglich, die aktuelle 14-Tage-Inzidenz liegt bei 302. Im Thurgau liegt sie etwas darunter mit 263 (7-Tage-Inzidenz bei 121). Die Zahl gibt an, wieviele neue Erkrankungen es pro 100’000 Einwohnern im jeweiligen Gebiet gibt. Die Intensivstationen sind, Stand 13. April, zu 70,9 Prozent ausgelastet, Tendenz steigend. Und beim Impfen geht es nur langsam voran.
Trotzdem hat sich die Politik nun für Öffnungen entschieden. Bundesrat Alain Berset sagte an der Medienkonferenz: „Wenn wir richtig aufpassen, und die Massnahmen sind gut umgesetzt, muss es möglich sein, ohne Jo-Jo-Effekt wirklich eine gute Entwicklung zu haben - parallel mit der Entwicklung der Testung und auch mit der Entwicklung der Impfung." Dass die Lockerungen nun trotz erneut steigender Fallzahlen kommen, liege am Vertrauen, dass man in die Bevölkerung setze und an der vergrösserten Testkapazität, so Berset.
Der Einfluss der gefühlten Bevölkerungsmeinung
Der Bundesrat räumte aber auch ein, dass die Stimmung in der Bevölkerung eine nicht unerhebliche Rolle bei der Entscheidung gespielt habe: „Es ist uns allen klar, dass wir heute nach dreizehn, vierzehn Monaten in dieser Situation wirklich an der Grenze sind. Wir können nicht mehr“, so Berset. Er verwies aber auch darauf, dass Vorsicht weiterhin geboten sei. „Die Situation in der heutigen Zeit bleibt ziemlich fragil und jeder Öffnungsschritt ist ein Risiko, das ist klar. Deshalb müssen wir vorsichtig bleiben“, so der Politiker.
Das Bundesamt für Gesundheit hatte ursprünglich vorgesehen, Lockerungsschritte von fünf Richtwerten abhängig zu machen, darunter die Inzidenz, Krankenhauseinweisungen und Intensivbettenbelegung. Nur einer der fünf Richtwerte wurde allerdings erfüllt: Die Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 lag unter der definierten Grenze.
Die Freude über die Öffnungen könnte von kurzer Dauer sein
Auch deshalb gibt es nun Befürchtungen, dass die neuen Öffnungen nur von kurzer Dauer sein könnten. Und sich das Land in einen dauernden Jo-Jo-Zustand zwischen Shutdown und Lockerungen begibt. Die Genfer Virologin Isabella Eckerle drückte es auf Twitter so aus: „Jetzt, in Gegenwart wirksamer Impfungen auf #Durchseuchung zu plädieren bzw. Öffnungen bei Impfung einer kleinen Bevölkerungsgruppe, ist so, wie zum Löschtrupp der Feuerwehr noch einen zweiten zu schicken, der statt Wasser Kerosin sprüht.“
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