von Markus Landert, 30.01.2025
Als Marina Abramovic einmal im Thurgau ausstellte
Die grosse Retrospektive von Marina Abramovic lockt die Massen ins Kunsthaus Zürich. Was viele nicht wissen: Vor fast 30 Jahren stellte Abramovic auch mal im Kunstmuseum Thurgau aus. Markus Landert, der frühere Direktor des Museums, erinnert sich. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Marina Abramovic gehört heute zu den herausragendsten Persönlichkeiten der Kunst. Sie kann ihre Werke weltweit in den wichtigsten Museen zeigen und es gibt Dutzende von Büchern, die ihr Schaffen dokumentieren. Wenige wissen, dass sie 1995 im Kunstmuseum Thurgau eine eindrückliche Installation realisierte.
Eine bedeutende Künstlerin war Marina Abramovic bereits 1995, als die Ausstellung «Double Edge» gezeigt wurde. Sie war eine der Pionierinnen der Performance und der Videokunst und ihre Arbeiten gehörten zu den Fixpunkten der damaligen Auseinandersetzung, was zeitgenössische Kunst zu leisten hat. Wie war es möglich, eine solche Persönlichkeit für eine Ausstellung in der Kartause Ittingen zu gewinnen, einem Ausstellungsort, der nicht gerade als einer der Hotspots der internationalen Gegenwartskunst galt?
Das Motto damals: Fragen kostet nichts
Rückblickend waren Kontaktaufnahme und Projektentwicklung mit Marina Abramovic verblüffend einfach. Wir gingen diese Projekte nach der Devise an: Fragen kostet nichts und wer nicht wagt, kann nicht gewinnen. Zudem hatten wir klare Zielvorstellungen: Gesucht waren Arbeiten für den Grossen Keller, der mit seinem Gewölbe und den Pfeilereinbauten eine besondere Kulisse für künstlerische Eingriffe bildete.
Der Raum, aber auch der inhaltliche Kontext des Kartäuserklosters, bot ein einzigartiges Umfeld für zeitgenössische Kunst, das es auszunutzen galt. Hannes Brunner mit seinem «Bankett mit Statisten» und Guido von Stürler mit der Ausstellung «Spezifisches und Diffuses» hatten 1993 und 94 die Potenziale des Ortes bereits erfolgreich ausgelotet, sodass die Zusammenarbeit mit international bekannten Künstlerinnen und Künstlern nur der folgerichtige nächste Schritt war.
Zum Erfolg der Kontaktaufnahme beigetragen hat damals auch das schon weit gespannte Netzwerk der Kuratorin Beatrix Ruf, die von 1994 – 98 für das Kunstmuseum Thurgau arbeitete.
Video: Marina Abramovic über ihre Ausstellung im Kunsthaus Zürich
Herausfordernde Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit mit bekannten Kunstschaffenden wie Abramovic erwies sich immer wieder als Herausforderung. Der Raum ist gross und gute Künstlerinnen und Künstler zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie unkonventionelle Ideen realisiert sehen wollen. Nach einer ersten Begutachtung entwickelte Abramovic die Vorstellung, zu jedem Kellerfenster hin eine Leiter aufzustellen.
Die Sprossen der einen sollten glühen, die der nächsten aus Eis sein und die der dritten aus scharfen Messerklingen bestehen. Nur eine der Leitern war begehbar, wenngleich das Fenster, zu dem sie führte, geschlossen blieb. Dass für die glühende Leiter eine Starkstromleitung notwendig war, wurde erst klar, als die Objekte geliefert wurden. In den Raumbögen gegenüber standen drei Stühle zur Wand hin gerichtet, die einluden, sich einen Moment hinzusetzen, um im fleckigen Verputz des Kellers seine eigenen Bilder zu finden.
Kraft der Kristalle
Diese Elemente wollte die Künstlerin mit Kristallen verbinden. Seit 1989 arbeitete Abramovic mit Objekten aus Mineralien. Solche Artefakten konnten Schuhe aus grossen Quarzen sein oder sie liess Kristallblöcke in die Wand einfügen, an die Menschen ihren Körper anlehnt können.
Solche Arbeiten fordern das Publikum zu einfachen Handlungen auf: Stehen, Liegen, Anlehnen werden als kontemplative Auseinandersetzung mit den eigenen physischen und geistigen Welten einfordert, wobei für die Künstlerin die Kraft der Kristalle ein wesentliches Element der Erfahrung bildete.
Wie aber sollte ein Kristall beschaffen sein, damit er im Grossen Ausstellungskeller Wirkung entfalten konnte? Abramovic schlug vor, den ganzen Boden mit Salzkristallen abzudecken, nicht zuletzt auch um den etwas biederen Schieferplattenboden zum Verschwinden zu bringen. Salz kam allerdings nicht infrage, weil solche Mengen bei nicht kontrollierbarer Feuchtigkeit ein nicht abschätzbares Risiko für die Bausubstanz bedeutet hätten.
Warum sich Abramovic für Marmorsand entschied
Die Lösung bestand dann aus Tonnen von weissem Marmorsand aus Carrara, der den ganzen Boden abdeckte und den Raum in einen seltsam entrückten Ort verwandelte.
Marmorsand verstand die Künstlerin nicht nur wegen seiner kristallinen Beschaffenheit als Symbol ihrer Arbeit. Sie kommentierte damals die Materialwahl: „Marmor könnte ich nicht verwenden, er ist so dauerhaft und ewig. So viel Kunst ist aus Marmor gemacht worden von Michelangelo bis James Lee Byars. Ich glaube, die Verwendung von Marmor zeigt das menschliche Bedürfnis nach Dauerhaftigkeit und Ewigkeit. Die Menschen denken, Marmor überdauert, ist für immer. Marmorsand dagegen zeigt die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit dieses Materials. Marmorsand scheint mit ein gutes Bild zu sein für den zu Sand gewordenen Verlust der Idee des ewig Gültigen. Meine Objekte sind "Durchgangsobjekte". Sie sind nicht für die Ewigkeit, sie sind Hilfsmittel, Vehikel, um Prozesse auszulösen. Ich denke, das entspricht den Bedingungen unserer Zeit weit mehr.“
Ein Erfahrungsraum wie eine Fata Morgana
«Double Edge» verwandelte den Grossen Ausstellungskellers in einen einzigartigen Erfahrungsraum. Kunst war hier mehr als ein Bild, als eine distanziert zu betrachtende Skulptur. Die Arbeit öffnete sich nur jenen, die sich in die weisse Sandwüste begaben, die die Hitze der einen Leiter, die Kälte und Schärfe der anderen spürten und sich für einige Zeit auf die überhohen Stühle setzten, um auf die leere Wand zu schauen. Der Keller wurde zu einem Raum, in dem es nur das zu sehen gab, was jede einzelne, jeder einzelne mitzubringen im Stande war.
Nach Ausstellungsende wurden die Tonnen von Marmorsand wieder aus dem Keller geschaufelt. Die im Auftrag des Museums produzierten Leitern blieben im Besitz der Künstlerin, die der Institution im Tausch dafür die Videoinstallation «Cleaning the Mirror» überliess.
An den Ort gebunden
Ittingen erhielt so eine ihrer zentralen Arbeiten, die seither im Kontext von Sammlungspräsentationen mehrfach gezeigt wurde. «Double Edge» ein zweites Mal im Keller zu inszenieren, stand ausser Frage. Die Installation blieb wie geplant ein zeitlich beschränktes Ereignis, das ungreifbar wie eine Fata Morgana nur in der Erinnerung der Menschen weiterlebt.
Die vier Leitern gelangten später in die Sammlung des Kunstmuseums in Gent, SMAK. Ohne Marmorsand und Kellerraum sind sie da allerdings lediglich eine symbolisch aufgeladenen Plastik, die vom Erfahrungswert ihres ersten Einsatzes nur noch wenig enthält. «Double Edge» ist so auch ein Beispiel dafür, dass gewisse Erfahrungen nur an bestimmten Orten möglich sind und sich nicht verschieben lassen.
Von Markus Landert
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