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Zukunft braucht Herkunft braucht Zukunft

Zukunft braucht Herkunft braucht Zukunft
Nach acht Jahren hat Ursula Baumann das Präsidium des Thurgauer Frauenarchivs an Regula Gonzenbach (v.l.) übergeben. | © Kathrin Zellweger

„Ein Frauenarchiv? Wozu denn das?“ Ursula Baumann hat mit Professionalität und Hartnäckigkeit den Beweis angetreten, dass der Verein dem Staat Thurgau eine Aufgabe abnimmt, die dieser so nicht leisten könnte. Nach acht Jahren übergibt sie das Präsidium an Regula Gonzenbach.

Kathrin Zellweger

Das Anagramm von Frauenarchiv heisst: Ach naiver Ruf. Eine Buchstabenspielerei zwar, die aber lange Zeit zusammenfasste, was viele dachten, wenn die Sprache auf den Verein Thurgauer Frauenarchiv TFA kam. Wozu braucht es neben dem unbestrittenen Staatsarchiv noch ein Archiv, wo Akten und Dokumente von Thurgauerinnen aufbewahrt werden? Sowohl der Staatsarchivar als auch der Regierungsrat (er unterstützt den Verein mit einem jährlich wiederkehrenden Betrag) sind froh, dass hier eine Arbeit getan wird, günstig, effizient und professionell – nicht zuletzt dank der Präsidentin. Denn Vereinsstatuten sind vorerst bloss Tinte auf Papier, für die Erfüllung des Zwecks braucht es persönlichen Einsatz.

Arbeit, nicht Ehrenamt

Acht Jahre war die Weinfelderin Ursula Baumann Präsidentin des TFA. „Das Frauenarchiv hat mit mir ganz persönlich zu tun, weil ich überzeugt bin, dass Thurgauerinnen in der Geschichte dieses Kantons einen Platz haben müssen. Insofern war dieses Präsidium viel mehr als bloss ein Ehrenamt, nämlich eine Arbeit, die mir direkt oder indirekt zugutekommt“, umschreibt sie ihre Aufgabe, die sie nie als Hobby verstanden hat. Dass sie heute so spreche, habe, das gibt sie gerne zu, auch mit ihrem eigenen Alter (61) zu tun. Ihr früheres Vorwärtsdrängen sei einem Interesse gewichen für das, was vor ihr gewesen und wovon sie beeinflusst sei.

Spannende politische Dimension

Mit ihrem Alter, sagt die neue 58-jährige Präsidentin Regula Gonzenbach aus Frauenfeld, habe ihr Interesse am TFA nichts zu tun: „Ich bin ein neugieriger Mensch. Frauenbiografien faszinierten mich schon immer.“ Was also ist die Motivation für die Anwältin, sich in ein Ehrenamt zu stürzen, das vor allem Arbeit und Ausdauer erfordert? „Vorab ist es der gute Ruf des TFA, der mich reizt, aber auch verpflichtet, alles daran zu setzen, damit das so bleibt. Das Organisatorische ist vergleichsweise einfach zu handhaben im Gegensatz zum Vorausdenken. Unser Verein ist in der Konsolidierungsphase, was mehr braucht als Routine. Spannend und bereichernd finde ich die politische Dimension; wir erfüllen eine öffentlichkeitsrelevante Aufgabe im Dienst der Geschichtsforschung.“

Projekt Oral History

Regula Gonzenbach mag nicht über Visionen reden; das Wort klingt ihr zu vollmundig. Aber ein wünschbares Projekt für die Zukunft hat sie: die Oral History (mündliche Geschichtsüberlieferung). Mit Tonaufnahmen kann man mit derselben Klappe gleich mehrere Fliegen schlagen. „Die eher nüchternen papierenen Dokumente werden ergänzt durch persönliche Erzählungen. Wiewohl diese subjektiv sind, ordnen diese Geschichten ‚äussere‘ historische Ereignisse in das Privatleben ein. Oft enthalten sie Geständnisse oder Selbstkritik. Damit schaffen Interviews mit Zeitzeuginnen Authentizität. Sobald wir Frauen erzählen lassen, haben sie nicht mehr das Gefühl, das Erlebte sei unwichtig.“

„Retro“ ist heutzutage, ausser in der Mode, nicht im Schwang. Das Interesse an Vergangenem, an Traditionen und Überliefertem erwacht erst, wenn die eigene Endlichkeit nicht mehr zu leugnen ist. Es erstaunt daher nicht, dass die Mehrzahl der gut 200 Mitglieder ältere Menschen sind, die aus Überzeugung dabei sind; denn einen konkreten Nutzen ziehen sie aus dem Verein nicht. „Ich hoffe dennoch, es sei kein frommer Wunsch, dass auch jüngere Menschen vom TFA wissen und sich als Mitglieder oder in ihrem Umfeld für uns einsetzen“, sagt Regula Gonzenbach, die derzeit keiner ausserhäuslichen Berufstätigkeit nachgeht.

Nicht der Rede wert?

Zwei Tatsachen begleiten und bestimmen die Geschichte des TFA nun schon seit mehreren Jahren. Zum einen sind es immer noch die Frauen, die meinen, ihre schriftlichen Dokumente seien im wahrsten Sinn des Wortes „nicht der Rede wert“; sie werfen sie daher weg. Eine Ansicht, die so bei Männern viel seltener zu finden ist. Das andere Faktum ist, dass das TFA das Opfer seines eigenen Erfolges wurde: In jüngster Vergangenheit konnte der Verein mehrere riesige Vor- oder Nachlässe als Schenkung entgegennehmen, die nicht nur unter dem Gender-Aspekt interessant sind, sondern auch kantonspolitisch bedeutend sind.

So weit die Freude. Die Kehrseite der Medaille ist, dass diese Konvolute erfasst werden müssen, was, wenn es um solche Dimensionen geht, die finanziellen Möglichkeiten des Vereins weit übersteigt. Ein Teufelskreis. „Diesem Dilemma müssen wir uns stellen, weil es dafür kurzfristig keine Lösung gibt. Ich hoffe, ich kann damit ebenso gut umgehen wie meine Vorgängerin Ursula Baumann“, sagt Regula Gonzenbach. Das Schwierigste an ihrem Amt ist für Ursula Baumann in der Tat gewesen, die finanziellen und personellen Prioritäten richtig zu setzen. „Aber meine Nachfolgerin braucht keine Tipps. Ich gebe mein Amt in beste Hände.“

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Verankert im kantonalen Kulturkonzept

Der Verein Thurgauer Frauenarchiv TFA wurde vor 14 Jahren gegründet. Zweck des Vereins ist die Förderung der Geschichtsschreibung über die Frauen in und aus dem Thurgau. Dazu sammelt und erschliesst der Verein Akten und Dokumente. Diese werden in den Räumen des Staatsarchivs gelagert, bleiben aber Eigentum des TFA. Der Vereinsvorstand arbeitet ehrenamtlich, er hat zwei Teilzeit-Archivarinnen angestellt. Der Verein wurde ins kantonale Kulturkonzept aufgenommen. – Frauenarchive gibt es ausser im Thurgau in St.Gallen/Appenzell, Graubünden und Tessin.

 

www.frauenarchiv.ch

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