19.12.2019
Warten auf das Bild

Der aus dem Thurgau stammende Fotograf Sebastian Stadler zeigt im Kunstmuseum St. Gallen gerade eine Solo-Schau. Unter dem Titel „Pictures, I think“ stellt der Manor-Preisträger 2019 aus.
Von Jiajia Zhang
Beim Hinabschreiten der Rampe, (die vormals in den naturwissenschaftlichen Teil des Kunstmuseums führte), begegnet man dem namensgebenden Satz 'Pictures, I think’ auf zwei Monitoren. Man erwartet eine Fortsetzung des Textes, dieser verharrt jedoch in der zögerlichen Behauptung. Welches Subjekt nimmt hier denkend die Eingangszone für Sebastian Stadlers Ausstellung ein?
Der Künstler selbst? Siri? Oder steht die Frage stellvertretend für unser Verhältnis zum Bildraum allgemein, zu dessen Reflexion und ausschweifender Ergründung uns der Künstler einlädt?
Die Achse der Rampe wird frontal und seitlich mit zwei weiteren Videoarbeiten fortgeführt. In der einen Arbeit sieht man gleitende Kamerafahrten, die an Wänden und Decken entlang streifen. Man erkennt die Uhr am Bahnhof St.Gallen von Norbert Möslang, dann wieder namenlose Platten und Abdeckungen von Infrastruktur in Gebäuden.
Der Titel der Arbeit, ‘Travellings’, verweist auf Bewegungen im Raum, doch ist dies nicht der Blick eines neugierigen Touristen. Viel mehr folgen die Aufnahmen systematischen Abläufen, die verschlüsselt und mechanisch ausgeführt werden. Ist dies das Werk einer Drohne? Eines Roboters? Einer versteckten Kamera, angebracht in unzähligen Überwachungsapparaten öffentlicher Plätze?

Hinter der Unaufgeregtheit eines Sommertages
Ebenso unauffällig muss sich der Künstler verhalten haben als er den Schwimmer im Neoprenanzug filmt, der die Längen eines Swimmingpools mal schreitend, mal schwimmend durchquert. In Pausen sieht man den Protagonisten vorsichtig das klare, blaue Wasser in sich versunken absuchen. Was befindet sich hinter dieser glatten Oberfläche? Kinder spielen im Hintergrund, die Sonne scheint. Hinter der Unaufgeregtheit eines Sommertages scheint etwas verborgen zu sein. Die Parallelität der Gleitbewegungen – einmal die der Kamera in ‘Travellings’ sowie die Bewegungen des Schwimmers in ‘Swimming Pool’, werfen mich auf meinen eigenen Körper zurück, der sich in Wintermontur eher schwerfällig tiefer in die Ausstellung bewegt.
Die entfernt an eine Parkgarage erinnernde Museumsarchitektur spiegelt sich gleich in mehreren Arbeiten von Stadler wieder. In ‘Welcome to Disneyland’ begegnet man erneut der gleichförmigen Kamerabewegung, diesmal fährt sie durch die weiten Felder der Parkplatzlandschaft vor dem Vergnügungspark. Im Soundtrack dazu hallt der Willkommensgruss zu animierter Cartoon Musik.
Nebst der Illusion von Disney vermengen sich hier Bild und Ton zu Narrativen des Nebenschauplatzes. Anfahrt, Abfahrt, Massenbewältigung, Erwartung und Enttäuschung. Die Haupthandlung hier ist das Warten. Das Davor und Danach des eigentlichen Spektakels wird subtil zelebriert. Diesen unauffälligen, beiläufigen, oft unregistrierten Momenten wohnt eine eigenartige, lakonische Stille inne, die der Künstler auch im Video Lumi/ ei lunta (Schnee-kein Schnee) von 2011 einfängt. In den Einöden von Birkenwäldern scheint der Alltag von archaischen Tätigkeiten geprägt. Fischen mit Metallkörben, Jagen, im Haus herum sitzen, Bäume fällen. Das Analoge dieser Urlandschaft reduziert das Sichtbare auf das Brauchbare und ist doch nicht weniger ein Geheimnis.

Der Blick des unverfrorenen Voyeurs
Ist der Blick hier noch eher dokumentarisch schreitet Stadler für ‘Vos Travaux’ in die Rolle eines unverfrorenen Voyeurs. Mit einem langen Zoomobjektiv beobachtet er unbekannte Kunden eines berühmten Pariser Fotolabors im intimen Moment der Bildbetrachtung. Man erinnert sich an die Vorfreude beim Abholen von entwickelten Negativen, da diese erst nach einer Wartephase zu sehen sind. Solche Glücksmomente, hervorgerufen durch Verschiebungen in der Zeit, sind ein Phänomen welches in der Unmittelbarkeit des digitalen Zeitalters immer mehr abhanden kommt.
Das Auslösen von neuen Bildern aus Existierenden scheint ein Leitmotiv zu sein. Bilder, die sich wie eine ‘L’Apparition’, wie eine weitere Fotoserie genannt wird, erst im fotografischen Doppelbelichtungs Prozess, erst bei der Auswahl und Komposition, z.B. von webgenerierten Bildern der finnischen Transportbehörde, die den Strassenzustand im wenig besiedelten Finnland aufzeigen (We see the whole picture) , erst im Dampf der heissen Quelle auf dem Parkplatz der japanischen Kleinstadt Obama (Obama) und erst durch den Wartezustand, neu formieren und behaupten.

Die Bilder hinter dem Sichtbaren
Für die Arbeit ‘Titel’ generiert der Künstler in Zusammenarbeit mit Carlo Jörges einen Algorithmus, der die Gesamtliste von 60’000 eBooks der frei zugänglichen, digitalen Bibliothek gutenberg.org mit Archivbildern des Kunstmuseum St.Gallen frei kombiniert. Mittels Bildanalyse werden in sekundenschnelle Zitate aus der Datenbank zu den einzelnen Abbildungen gestellt.
Das Inhalt generierende ‘I’ ist hier klassifizierbar künstlich. In seinem Eifer vermag es im dunklen, leeren Auditorium mentale Bilder hervorzurufen, die sich erst durch die Anwesenheit von Betrachtern multiplizieren, und die auf das Potential von gedachten Bildern hinter den Sichtbaren verweisen. Pictures, I think. Pictures I think.
Termine: Die Ausstellung „Pictures, I think“ ist noch bis 16. Februar 2020 im Kunstmuseum St. Gallen zu sehen.
Hinweis: Der Beitrag ist zuerst auf www.saiten.ch erschienen.


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