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von Christian Brühwiler, 09.06.2014

Pfingstkonzerte und ein Abschied

Pfingstkonzerte und ein Abschied
Der grossartige lettische Radiochor in der KIrche der Kartause Ittingen. | © Christian Brühwiler

Die 20. Ittinger Pfingstkonzerte standen im Fokus der Zahl 14. Es waren die ersten ohne den künstlerischen Leiter András Schiff und die ersten unter Mitwirkung der Sängerin Juliane Banse. Es waren aber auch die letzten unter der Leitung von Heinz Holliger, den eine grosse und treue Konzertgemeinde innigst verabschiedete. Im folgenden zwei Konzertbesprechungen.


Christian Brühwiler


Ittinger Pfingstkonzerte, Sonntagabend

Heinz Holliger stellte für dieses Konzert ein aussergewöhnliches Programm zusammen, in dessen Zentrum Lieder von Paul Hindemith und Heinz Holliger nach Gedichten von Christian Morgenstern und die Uraufführung dreier Shakespearscher Ophelia-Lieder von Richard Strauss in der Instrumentierung von Aribert Reimann standen. Zwei Werke von Carl Philipp Emanuel Bach, die Triosonate „Sanguineus et Melancholicus“ und die von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg mit dem Hamlet-Monolog unterlegte Klavierfantasie c-Moll bereicherten und erweiterten die Programmanlage, die mit viel Fantasie Fragen, Lösungen und Varianten der Beziehung von Sprache und Musik thematisierte. Über vielem schwebte eine melancholische Schwere, geprägt von den Schrecken des Krieges und des Todes, von dem allgemeinen Kulturzerfall und der leisen Befürchtung, die Endzeit habe eigentlich schon stattgefunden. Es ist wohl ein unauflöslicher Widerspruch, dass wir immer noch fähig sind, auch in unserer - frei nach Holligers pessimistischer Weltsicht - postdekadenten Zeit wunderbare Musik zu machen und geniessen zu können wie an diesem prächtigen, auch wettermässig stimmigen Sonntagabend.

Juliane Banse und Heinz Holliger (vorne, von re) leiteten die 20. Ittinger Pfingstkonzerte 2014. Bild: Christian Brühwiler


Die beiden Geigerinnen Hanna Weinmeister und Muriel Cantoreggi interpretierten die gegensätzlichen Charaktere des Melancholikers und des Sanguinikers in der das Konzert eröffnenden Triosonate C. Ph. E. Bachs auf treffendste Weise. Bis in feinste Nuancen der Artikulation und Phrasierung gestalteten sie ihren Part, abgeschattet und verhalten, aber mit samtigen Ton Cantoreggi, vital, offen und spritzig Weinmeister, unterstützt von einem wachen Continuo. Bachs Klangrede wirkte gerade in den „Streitpassagen“ überraschend modern, voller abrupter Brüche und Gegensätze.


Enorm sinnlich

Der darauf folgende „Melancholie“-Zyklus, vier Lieder nach Morgenstern-Gedichten von Paul Hindemith, geriet zu einem ersten Höhepunkt des Abends. Die Gedichte Christian Morgensterns wurden von Hindemith in atmosphärisch dichte, dennoch leicht und enorm sinnlich wirkende Musik gesetzt. Boccherini kommt einen in den Sinn, ein Boccherini mit dissonanten, schmerzlichen Trübungen. Schlicht, eher instrumental und ohne übermässiges Pathos interpretierte die Mezzosopranistin Katrin Wundsam ihren Solopart, der vom Merel-Streichquartett aufmerksam begleitet wurde. Katrin Wundsam war nochmals zu hören in der mit Shakespeares Hamlet-Monolog unterlegten Klavierfantasie c-Moll Wq 63 Nr. 6 für Hammerflügel. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg hat dies zweifellos geschickt gemacht, und es ist staunenswert, dass es überhaupt möglich ist. Katrin Wundsam und Alexander Lonquich interpretierten das Werk mit viel Sorgfalt, doch „Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage“, und im Programmheft wurde das Publikum aufgefordert, sich selbst ein Urteil zu bilden. Wir würden sagen, der Text stört die Musik, er muss nicht sein.


Banse überzeugt mit Ophelia

In Holligers „Sechs Morgenstern-Liedern“ für Sopran und Klavier waren Juliane Banse als Solistin und der Komponist selbst als Begleiter zu hören. Jugendlich-expressiv, noch stark tonal geprägt wirkt Holligers Frühwerk, doch schon erstaunlich klar und persönlich die musikalische Handschrift. In Richard Strauss „Malven“ liess sich Juliane Banse von Anton Kernjak begleiten. Der Eindruck ist subjektiv, doch sowohl bei Holliger wie auch bei Strauss‘ „Malven“ vermochte Banse nicht restlos zu beglücken. Die Stimme schien manchmal etwas belegt, der expressive Ausdruck an manchen Stellen zu forciert. Gerade in den zarten Textpassagen hätte man sich nuanciertere, subtilere Zwischentöne vorstellen können.


Sehr, sehr überzeugend gelang Juliane Banse jedoch die Uraufführung der drei Ophelia-Lieder von Richard Strauss, die der deutsche Komponist Aribert Reimann für ein Instrumentalensemble bearbeitete. Banses Kraft, Virtuosität und Ausstrahlung waren hier eingebettet in einen raffinierten Ensemblesatz, der die Uraufführung zum eindrücklichen Erlebnis machte. Bereichernd war auch die Zugabe. Heinz Holliger meinte, weil das Werk für alle, für die Musiker, für ihn und natürlich für die Zuhörer ganz neu sei, würden sie es gleich nochmals spielen.


Pfingstsonntag, Nacht

Nach dem anregenden, aber auch etwas heterogenen und durch viele Umbaupausen unterbrochenen Abendkonzert folgte sonntagnachts in der Kirche ein Chorkonzert aus einem Guss. Sechs erstaunliche Bearbeitungen von Gustav Mahlers Orchesterliedern und drei Bearbeitungen von frühen Bruckner-Liedern standen auf dem Programm. Das Besondere daran: Der Musikwissenschaftler und Chordirigent Clytus Gottwald hat die Orchesterlieder a cappella, also für eine rein vokale Besetzung arrangiert. Den führenden Komponisten der Jahrhundertwende war die a cappella-Besetzung fremd. Mit seinen Bearbeitungen erschliesst Gottwald Chören einerseits eine musikgeschichtlich wichtige Epoche, andererseits schlägt er eine Brücke sowohl zur grossen Tradition der Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts, als auch zur avantgardistischen Chormusik eines György Ligeti.


Einfach grossartig


Durch die Bearbeitungen erfahren die Orchesterlieder eine wunderbare Metamorphose. Die einzelnen Elemente der musikalischen Struktur werden gleichwertiger, wodurch die polyphone Anlage viel deutlicher hervortritt. Die Solostimme erscheint nun viel stärker ins Ganze integriert und tritt nur phasenweise deutlich hervor. Die zum Teil unglaublich dichten und komplexen Harmonien voller Dissonanzen treten stärker hervor. Der lettische Radiochor interpretierte diese anspruchsvollen Kompositionen einfach grossartig. Eine perfekte Stimmbalance, ein homogenes Timbre durch alle Register und eine makellose Intonation bildeten die Grundlage einer berührenden Aufführung. Bevor der lettische Radiochor unter Heinz Holligers Leitung mit drei frühen, konsonanteren Bruckner-Liedern das Konzert beschloss, erklang zum Andenken an die im Januar verstorbene Ursula Holliger Alma Mahlers „Bei Dir ist es traut“. Ein besonders inniger Moment, der wie das ganze Konzert einen starken Eindruck hinterlässt.

 

Ende einer Aera

Der frühere Kurator der Kartause Ittingen, Kurt Schmid, verabschiedete am Pfingstmontag im Namen der Stiftung Kartause Ittingen den Mitbegründer und künstlerischen Leiter der Pfingstkonzerte, Heinz Holliger. Sein künstlerischer Freund und Mitgestalter András Schiff hatte schon letztes Jahr adieu gesagt. Von nun an werden die Pfingstkonzerte immer wieder unter neuer Leitung stehen, nächstes Jahr zum Beispiel unter jener der Dirigentin Graziella Contratto.

Kurt Schmid sprach von einer Aera, die zu Ende gehe und blendete zurück in die Anfänge der Pfingstkonzerte, als Konzertveranstalter Jürg Hochuli zusammen mit Schiff und Holliger die Kartause besichtigte und die NZZ nach der ersten Durchführung der Konzerte von „Weltklasse in Ittingen“ schrieb. Heinz Holliger erhielt, wie letztes Jahr András Schiff, einen lange, lange anhaltenden Applaus, und es flossen da und dort Tränen der Wehmut. (red)

 

TZ: Wie ein freudiges Familientreffen

TZ: Keine leichte Kost

 

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