von Jeremias Heppeler, 08.07.2017
Höher! Schneller! Weiter! Fetter!
Das Open Air Frauenfeld wächst und wächst und bietet seinen Besuchern auch jenseits der Musik immer mehr. Die Liveshows waren trotzdem auch in diesem Jahr spektakulär. Wir waren am Freitag vor Ort
Wer über das Openair Frauenfeld berichtet, der schmeisst gerne mit Superlativen um sich. Rap-Mekka! Europa grösstes HipHop-Festival! Um diesem vorauseilenden Ruf gerecht zu werden, entwickelte sich das Megaevent im Thurgau (in diesem Jahr mal wieder ausverkauft, pro Tag kommen so um die 50 000 Leute aufs Gelände) zuletzt konsequent weiter. Mittlerweile gleicht das Frauenfeld-Gelände einer Art HipHop-Erlebnispark der Sonderklasse, der alle noch so kleinteiligen Sphären der Kultur mit abdeckt: Basketball-Courts, Mode-Läden, Beatbox-Battles, Battlerap-Arenen, zwei kleine Bühnenareale mit Dauerprogramm, Sprayer-Areas, Fitnessparks, Nachwuchsprogramme, Breakdance-Arenen, Rückzugsorte und Party-Bunker mit Dauerbeschallung. Überall gibt es etwas zu gucken oder zu erleben, überall wuselt und bewegt sich was. Im Zentrum: Musik. Immer, überall und aus allen Rohren und vor allem von den grandios designten Hauptbühnen im spektakulären Skyline Look.
Der Skyline-Look: Das Festivalgelände in Frauenfeld wird immer spektakulärer. Bild: Festival
Speziell der Festivalfreitag, inoffizieller Haupttag, hatte dieses Jahr einiges zu bieten – unter anderem gleich fünf Acts, die bei anderen HipHop-Festivals im deutschsprachigen Raum wohl allesamt als Headliner durchgehen würde. Und natürlich müssten wir jetzt eigentlich über einen kleinteiligen Konzerttag sprechen: Wie Celo und Abdi die Bühne bei Olexesh enterten. Wie Newcomer Ufo361 die Soul City Hall zum Platzen brachte. Wie Pusha T mit dem Flow einer Kreissäge überzeugte und dann sein fantastisches Konzert 15 Minuten zu früh beendete. Aber das alles würde den Rahmen sprengen. Konzentrieren wir uns also auf die dicken Fische im Frauenfeld-Teich.
Travis Scott beim Open Air Frauenfeld 2017
Der Deutschrap Headliner: Bonez MC & Raf Camora
Die bahnbrechende Erfolgsgeschichte des Kollaboalbums „Palmen aus Plastik“, das der Hamburger Gangsterrapper Bonez MC gemeinsam mit dem Wiener Soundexperimenteur Raf Camora eingespielt hat, ist in seiner niederwalzenden Wucht kaum zu erklären. In jedem Fall vermischen sich Bonez Glaubwürdigkeit, die er sich mit der 187 Strassenbande über viele Jahre erarbeitet hatte, mit Rafs Gespür für neuartigen Sound - wobei hier sicherlich die Anmerkung erlaubt sein muss, dass viele Afro Trap Anleihen und Zitate teils direkt bei den französischen Vorbilder wie MHD entlehnt sind (das führte die direkte Vergleichsprobe auch eindrucksvoll vor Ohren).
Schwamm drüber: „Palmen aus Plastik“ war das deutschsprachige HipHop-Album des vergangenen Jahres und erscheint mit seinen tanzbaren Dancehall-Versatzstücken geradezu perfekt geeignet für ausufernde Festivalgelage. Bereits der Opener „Mörder“ versetzt die Crowd dann auch schon massiv in Schwingung und diese kommt in der folgenden Stunde nur selten zur Ruhe. Die Hitdichte der Show ist immens, die Publikumsreaktion massiv – auch wenn die versammelte Songriege nach 20 bis 30 Minuten und trotz zahlreichen Gästen aus dem 187-Kosmos doch recht repetitiv herum kreiselt. Vielleicht liegt´s am Dancehall-Genre. Halt, nein, es liegt auf jeden Fall am Genre. Und an den gefühlten 40 Grad im Schatten, die aufs Frauenfeld darnieder brennen.
Der Alternativheadliner: Casper
Vor wenige Wochen führte Casper noch die renommierten Festivalzwillinge Southside und Hurricane an. Das führt ziemlich markant vor Augen durch welche Welten der gebürtige Bielefelder derzeit taumelt. HipHop, Indie, Postrock, Mainstream – die Zuordnungen verschwimmen im Bezug zu Casper, der bei Selfmade Records an der Seite von Kollegah seine Karriere einst als geradliniger Rapper in Schwung brachte. Die Zeiten sind allerdings längst Geschichte: Casper-Konzerte sind mittlerweile mit Zitaten gespickte Blockbuster-Events, bis ins letzte Detail durchgeplant und im passenden Look zu den emotionalen Ausbrüchen auf Songebene. Diese vielgliedrige Design-DNA in allen Schichten und Medien macht den Rapper zu einer Art Gesamtkunstwerk, das an manchen Stellen in seiner konzentrierten Konzeption ein wenig gekünstelt wirkt. Trotzdem ist alleine das Bühnen- und Lichtbild, das zu Konzertbeginn einen Stacheldraht auf die Bühne zeichnet, ein wahrer Augenschmaus. Dazu scheppert Caspers Band mit massiven Druck, der den Protagonisten selbst zu einer wahren Energieleistung antreibt.
Der Oldschoolheadliner: Nas
Nas - New York - HipHop: Dieses Begrifftriumvirat gehört zusammen wie Tupacs Tod und Verschwörungstheorien. Und spätestens 2017 könnte man dem munteren Stichwort Trio noch problemlos das „Openair Frauenfeld“ zu Seite stellen, denn Nas gehört mittlerweile zu absoluten Festivalurgesteinen. Bereits zweimal führte er das Festival als Speerspitze an und präsentierte sich hierbei einerseits in reduzierter Ein-Mann-ein-Mic-Form und andererseits mit knallharter Crossover-Band. Bei seinem dritten Einmarsch auf die Grosse Allmend gibt’s nun wieder die Oldschool-Variante auf die Ohren, wobei Nas einen grundsoliden Auftritt auf Parkett pfeffert, dem allerdings die ganz grossen Highlights und erinnerungswürdigen Momente abgehen. Einen gibt es aber doch: In Erinnerung an den kürzliche verstorbenen Rapper Prodigy (Teil des Duos Mobb Deep) spielt Nas dessen Hit „Shook Ones“. Gänsehaut.
Der Popheadliner
Natürlich waren die Aufschreie auf Seiten der Realkeeper und Oldschooler gross, als das Openair Frauenfeld The Weeknd als absoluten Hauptact seines 2017er Lineups ankündigte und damit an die ebenfalls umstrittene Buchung von Nicki Minaj anknüpfte. Im Gegensatz zu deren, naja, sagen wir mässiger Show, ist der kanadische Pop-Superstar allerbestens für die ganz grosse Bühne gerüstet. Die Umstände könnten zudem kaum besser sein: Das Frauenfeldgelände platzt aus allen Nähten, aus Ecken des Geländes strömen die Massen herbei. Und werden nicht enttäuscht: Denn einen solchen Bühnenaufbau hat man bis dahin noch nicht gesehen. Zentral über dem Sänger hängt eine abgefahrene und immense Scheinwerfer-Konstruktion, die de facto im freien Raum schwebt und dort sowohl als einfache Tangente oder aber als gigantisches Dreieck flimmert. Das ist Science Fiction, Next-Level-Shit, wie es ein Konzertnachbar mit grossen Augen nennt.
Dazu jodelt das von Rapper Drake entdeckte Supertalent seine Schmachtballaden und Popbrecher auf technisch allerhöchsten Niveau. Und doch fragen wir uns jetzt auch: Ist das noch HipHop? Und die Antwort lautet ja! Ein Grossteil der Genretrends bewegt sich in Richtung Melodie, Pop und Gesang und das hier besprochene Freitags-Lineup offenbart in Reinform, dass sich HipHop 2017 in erster Linie durch Vielfalt auszeichnet. Die entscheidendere Frage lautet indes: Ist diese spektakuläre, aber eben auch inhaltsleere Explosion der Reize, welche The Weeknd hier abfeuert, die Zukunft des Pop? Geht es nur noch um Oberfläche? Und wäre es nicht völlig egal wenn man den Sänger jetzt durch Justin Bieber oder Miley Cyrus oder Beyoncé oder eine Band wie Imagine Dragons austauschen würde? Mainstream-Pop gleicht sich an, das scheint bewiesen, der Sound auf höchster Ebene wird immer generischer. Und mitten in diese Überlegungen kracht das letzte Hurra des Konzerts, ein Bombardement der Unterhaltung, inklusive Feuerwerk und raumgreifender Flammenprojektion und wischt zumindest für diesen Tag die nagenden Zweifel weg.
Der exklusive Headliner
Über kein Frauenfeld-Konzert wurde vorab soviel gesprochen wie über Flers Comeback den Festivalbrettern die die Welt bedeuten. Grund dafür: Fler selbst. Der stetig umstrittene Meister der Video- und Skandalinterviews teaste seit Woche und Monaten Details seines Konzertes und buk dabei keinesfalls kleine Brötchen. Und was will man sagen: Grösstenteils hatte der Vollblut-Berliner nicht zu viel versprochen! Das abschliessende Konzert bot bestes Entertainment auf allen Ebene, auch wenn die Technik zu Beginn mit ziemlichen Soundprobleme zu kämpfen hatte und im speziellen das kleinteilige Beatgerüst vom Winde regelrecht verweht wurde.
Insgesamt bot Fler gemeinsam mit seinem Partner in Crime Jalil, deren Kollaboalbum „Epic“ zuletzt in Deutschland und der Schweiz die Chartspitze erobert hatte, eine überaus freshe Show mit Fler-typischen Aussetzern von höchsten Unterhaltungswert. Soll heissen: Reduzierter Trap-Sound auf Höhe der Zeit, eine dazu passende Lightshow mit wirklich spektakulären Pyroelementen und zwei kurzen Austickern in Richtung Publikum. Fler bleibt eben Fler. Koste es was es wolle. Und: Fler hat sich zu einem Vordenker entwickelt, der mit Songs wie „Paradies“ oder „Sollte So Sein“ zuletzt lupenreine Deutschrap-Hits abgeliefert hatte.
Weitergucken: Mehr Videos vom Open Air Frauenfeld 2017
Interview von SRF3 mit Marteria
Du bist, was du trägst: Beobachtungen am Rande der Musik beim OAF 2017
Das Publikum stürmt die Bühne bei Desiigner: Konzertabbruch!
Weitere Beiträge von Jeremias Heppeler
- „Der Thurgau ist ein hartes Pflaster!“ (08.07.2024)
- Sehenden Auges in den Sturm (08.05.2023)
- Die Superkraft der Literatur (17.04.2023)
- Auf zu neuen Welten! (27.03.2023)
- Die Tücken der Vielfalt (15.12.2022)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Hip-Hop
Ist Teil dieser Dossiers
Ähnliche Beiträge
Noëlles Klanggeschenk
Weihnachten mit zeitgenössischer Musik: O du fröhliche Disharmonie? Von wegen. Das “Concert de Noëlle No.2 im Kunstraum Kreuzlingen war wunderlich wundersam. mehr
Harter Sound mit viel Liebe zum Detail
Seit fünf Jahren arbeitete die Frauenfelder Band Haile Selacid an ihrem Debütalbum, das Anfang November erschien. Es begeistert mit einem innovativen Mix aus Heavy Metal, Black Metal und Punk. mehr
Was Musik kann
Das Musiktheater „Ohne X und ohne U“ erinnerte im Eisenwerk an die Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel (1936-1996). Eine Aufführung, die technisch faszinierte und menschlich berührte. mehr