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von Barbara Fatzer, 05.05.2015

Starke Blust-Geschichten

Starke Blust-Geschichten
Fahrt im Regen, vorbei an voll erblühten Rapsfeldern neben saftgrünen Wiesen. | © Barbara Fatzer

Einzigartiges Angebot der Kulturstiftung letzten Sonntag: eine «geothermische Bluestfahrt» durch die blühende Thurgauer Landschaft, um aus ihrer Tiefe Persönlichkeiten und Geschichten ans Licht zu heben.

Barbara Fatzer

Thurgauische Bescheidenheit und Zurückhaltung verhindern es immer wieder, dass wir namhafte Persönlichkeiten aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennen, die das Gesellschafts- und Kulturleben bereichert haben. So zum Beispiel: dass es «ein Weimar im Thurgau» (Uttwil) gab in den 1920er Jahren, dass die zweite allgemeinpraktizierende Ärztin der Schweiz aus Guntershausen stammt (Caroline Farner) oder dass im Thurgau bereits seit 1922 Anna Walder (1894–1986) (pdf, 300 KB) eine Berufsberatung für Mädchen einrichtete und 40 Jahre lang betreute. Für die ungefähr sechzig Gäste ergab das so manches Aha-Erlebnis und Staunen über die bis anhin kaum bekannten Thurgauerinnen oder fremden Gäste.

Die Apfelbäume standen im vollen Bluest – aber es regnete in Bindfäden, grau in grau gab sich der Himmel über der sanften Hügellandschaft mit ihren voll erblühten Rapsfeldern neben saftgrünen Wiesen, dazu die weiss-gelben Obst- und Wiesenblüten. Dazwischen akkurat gefurchte Kartoffeläcker, tiefbraun vom ständigen Regen. Die Landschaft hatte sich also die Wappenfarben frühlingshaft angelegt, was eine aus Zürich Zugezogene veranlasste zu sagen, dass der Thurgau doch noch sehr ländlich sei!

Wie aus dem Vorlagenbuch eines Malers: Kühe mit blühendem Baum und...

... die Landschaft in den Thurgauer Wappenfarben. (Bilder: Barbara Fatzer)


Da der Busfahrer sich auf schmalen Nebenstrassen hielt, von Frauenfeld über den Obersee nach Arbon und dann Richtung Hinterthurgau, durch Dörfer und Weiler, konnte dieser Eindruck wirklich entstehen. Die Stimmung während der Fahrt war trotzdem ausgezeichnet, da man mit spannenden Geschichten von Klaus Hersche und Stefan Keller alimentiert wurde.

Die demütige Thurgauerin

Hochoffiziell begann die Geschichtenfahrt der Kulturstiftung des Kantons Thurgau im Rathaus Frauenfeld, wo Regierungsrat Claudius Graf-Schelling eine Lobesrede auf Anna Walder hielt, was etwas befremdlich wirkte, da diese engagierte Frau für ihre Vorhaben im Sozialbereich vom damaligen Regierungsrat kaum finanzielle Unterstützung oder Anerkennung bekam. Eigentlich wollte sie Ärztin werden, aber nicht mal die Mittelschule konnte sie in Frauenfeld besuchen - diese nahm bis 1912 keine Mädchen auf.

Man könnte sie als Prototyp der bescheidenen, unauffälligen Thurgauerin bezeichnen, die im Stillen und voller Demut grosse Aufgaben erfüllte und kaum öffentliche Wertschätzung bekam. Sie blieb in der Beschreibung ihrer Biografie denn auch farblos, was einmal mehr zeigt, wie wichtig historische Aufarbeitungen von Frauenleistungen wären.

Blick auf die stark ansteigende Thur auf dem Weg nach Uttwil.

Weimar im Thurgau

Dann über die mächtig geschwollene Thur bis nach Uttwil, wo uns Margrit Stückelberger-Eder in ihrem Haus direkt am See erwartete. Uttwil hatte im 19. Jahrhundert einmal den grössten Hafen am Bodensee dank der Kaufleute Dölli mit ihrem Salzhandel, bis ihm Romanshorn mit Bahnanschluss diesen Rang ablief. Die herrschaftlichen Häuser im Unterdorf wurden zu Hotels umfunktioniert oder boten kunstsinnigen Leuten aus dem Ausland Unterkunft, wie etwa René Schickele, der hier seinen Verlag betrieb, oder dem Architekten Henry van de Velde, der in Weimar mit seiner Kunstgewerbeschule den Grundstein fürs spätere Bauhaus legte. Der Schriftstelle Carl Sternheim dagegen erwarb sich eine schlichte Villa etwas ausserhalb vom Dorf und schrieb dort das Drama «Die Schule von Uznach», aus dem spontan einige der Mitreisenden eine Szene spielten.

Das Döllihaus, welches später stark umgebaut vom Architekten van de Velde und seiner Familie bewohnt wurde.

"Uttwiler Meisterkurse" vom 23. bis 30. August

Die Herrschaftshäuser und die Villa Haab erhalten jedes Jahr wieder eine musikalische Belebung durch die «Uttwiler Meisterkurse», die vom 23. bis 30. August zum achtenmal durchgeführt werden. Auch das ist kaum bekannt, darf man doch während den Proben zwanglos dabei sein. Den Meisterschülern des Vorjahres wird zudem ein Konzert mit der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz ermöglicht: diesmal am 7. Juni in der Stephanskirche Konstanz. (fz)

Der erweiterte Schiffssteg in Uttwil.

Die zweite Künstlergeneration, die hier einzog, waren dann vor allem Schweizer, wie der Schriftsteller Emanuel Stickelberger (Enkel Hans, gewesener Pfarrer am Grossmünster Zürich, erwarb das Haus), der Thurgauer Paul Ilg (*1) oder Ernst E. Schlatter. Die Villa Haab war Treffpunkt für berühmte Musiker, die in den 1940er Jahren emigrieren mussten. All das wusste die Gastgeberin humorvoll und präzis wiederzugeben. Leider konnte ihr Mann den Ruhestand in Uttwil nicht mehr geniessen, er starb 2004. Dafür setzt sich jetzt Margrit Stickelberger dafür ein, dass diese bemerkenswerte Dorfgeschichte wieder wertgeschätzt wird.

Geschenkte Villa ohne Zukunft?

Den Geburtsort Guntershausen, wo Caroline Farner (1842–1913) aufwuchs, konnte der riesige Bus zwar anfahren, bis zum Haus gelangte man nicht. Da auch die Referentin Rosemarie Keller (*2) nicht dabei sein konnte – sie hatte für ihren Roman eingehend die Geschichte dieser in Zürich praktizierenden Ärztin aufgearbeitet –, fuhr man schnell weiter nach Arbon, wo man die denkmalgeschützte Jugendstilvilla «Sonnenblume» von innen und aussen einsehen durfte. Erbaut hat sie der Dekorationsmaler und Fotograf Max Burkhardt (1867–1957; *3).

Eingang zum Fotoatelier Burkhardt.

Die unterschiedlich gestalteten, aber kleinen Räume waren zugleich seine berufliche Visitenkarte, um so Aufträge im ausstrebenden Industrieort zu erhalten. Inzwischen ist das teilweise renovierte Haus in Stadtbesitz. Gegen einen Verkauf wehrten sich Arboner Bewohner. Was aber weiter mit ihm geschehen soll, ist noch offen.

Stimmungsvoller Zerfall

Letzte Station war die ehemalige Arbeits- und Strafanstalt in Tobel, erst 1973 geschlossen wegen unhaltbarer Bedingungen. Die ehemalige Johanniterkomturei (von J. Caspar Bagnato erstellt wie auch das Bischofszeller Rathaus) wurde ab 1811 Zuchtanstalt für den eben erst eigenständig gewordenen Kanton Thurgau. Die Gäste wurden barsch dazu verknurrt, in der Gefängniskapelle die Kastensitze einzunehmen, um so den Kurzvortrag von Verena Rothenbühler (*4) über sich ergehen zu lassen, wie einst die Gefangenen die Predigten der Pfarrer, die sich dieser Ausgestossenen annehmen mussten.

Erschreckender war zu sehen, in welch desolatem Zustand sich die ganze Anlage befindet, Die zuständige Stiftung und der Verein mühen sich zwar ab, die Situation zu verbessern, aber mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ist diese Instandstellung nicht zu bewältigen. Zudem ist nicht klar, wofür diese Räume geeignet wären. Wie stimmungsvoll trotzdem etwa die ehemalige Weberei sein kann, bewies das vom Verein angerichtete Abendessen an langen Tischen. Kaum wollten die Gäste den Ort verlassen, um einen langen Tag voller Thurgauer Geschichten abzuschliessen.

1811 bis 1972 "Zuchtanstalt", weitere Verwendung unklar: Komturei Tobel.


***

Die Fussnoten:

*1: Immer noch lesenswert sind seine Romane «Das Menschlein Matthias» (1913) oder «Der starke Mann» (1916).
*2: «Ich bereue nicht einen meiner Schritte, Leben und Prozess der Ärztin Caroline Farner», Zürich 2001.
*3: «Max Burkhardt – vom Dekorationsmaler zum Fotograf», Frauenfeld 2010.
*4: Das Buch dazu: «Hinter Schloss und Riegel, Die Strafanstalt Tobel 1811–1973», Thurgauer Beiträge 152/2015.


***

Mehr zum Thema

Geothermik einmal anders - thurgaukultur.ch vom 2.04.2015

 

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