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28.03.2015

Ein Netz ist ein Netz ist...

Ein Netz ist ein Netz ist...
"Richtig" vernetzt: Die vierte Klasse des Schulhauses Kirchplatz in Wil. | © Sascha Erni

Am 27. März 2015 fand in der Lokremise St. Gallen die Schlussveranstaltung zu den ersten Ostschweizer Schultheatertagen statt. Drei Schülergruppen traten auf, unter ihnen die Primarschule Kesswil. Ein gelungener Abend

Sascha Erni

«Handy bitte ausschalten. Fotografieren verboten.» steht an der Türe zum Theatersaal der Lokremise. Passend, denn das Thema der Schultheatertage war «Netz»; Berichte über Internetgefahren, von Sucht bis Mobbing, füllen die Zeitungen. War die Notiz an der Theatertür also in diesem Sinne zu verstehen? Keine Bilder ins Netz stellen, zum Persönlichkeitsschutz der Schülerinnen und Schüler?

Querschnitt statt Wettbewerb

23 Theatergruppen, knapp 500 Kinder – die ersten, auch vom Kanton Thurgau unterstützen Ostschweizer Schultheatertage bewegten viele. Über Monate hatten die Schulklassen mit Lehrpersonen und Theaterpädagogen ihre Stücke erarbeitet, führten diese schliesslich auch in Mels, Weinfelden und St. Gallen auf. An der Abschlussveranstaltung nun also drei Aufführungen, als Übersicht monatelanger Arbeit hunderter Menschen.

"Spinnsch?!": Das Stück der Primarschule Kesswil. (Bilder: Sascha Erni)


Ein Abbild sollen die ausgewählten Theatergruppen sein, die an diesem Freitagabend auftreten, nicht die Gewinner eines Wettbewerbs, erklärt Projektleitungsmitglied Mario Franchi den vollen Zuschauerrängen. Ein Blick ins Programmheft lässt mich ihm beipflichten: Einen «Gewinner» kann es hier nicht geben. Zu gross sind die Altersunterschiede, zu unterschiedlich die Herangehensweisen. Eine Wertung würde auch am Ziel vorbeischiessen; die Schultheatertage wollen Kinder und Jugendliche an die Welt des Theaters heranführen. Nicht in einen Wettstreit stecken.

Spinnennetze und Schmetterlinge

Das Projektteam fasst sich kurz mit der Einführung, die ersten 22 Schülerinnen und Schüler betreten die Bühne. Die 1./2. Klasse der Primarschule Kesswil führt «Spinnsch?!» auf, ein eigenes Stück, erarbeitet zusammen mit der Theaterpädagogin Irène Trochsler.

Rhythmische Musik und Bewegungen, das Thema wird schnell klar: Spinnen weben ein Netz. Schmetterlinge verfangen sich darin, Schulkinder betrachten das Drama – «Spinnen find i gruusig!» – «Ich finde Spinnen cool!» Sie räumen die Spinnen weg und sinnieren darüber, welche Art von Netz sie gerne hätten, und was sie damit anstellen würden.

Aber die Spinnen stürmen die Bühne erneut, und es wird chaotisch. Oder versponnen? Jedenfalls überaus unterhaltsam.

Spiegelung der FHS St. Gallen in der Remise: Gegenpol oder Ergänzung?

Theater und der Ernst des Lebens

Als ich das Areal der Lokremise betreten hatte, spiegelte sich die Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen in den Fenstern. Kultur und Krankenpflege, Kunst und Wirtschaftsinformatik: Gegenpole oder Ergänzung? Der St. Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker setzt in seiner kurzen Ansprache vor der nächsten Aufführung auf die zweite Interpretation.

Man lerne viel fürs richtige Leben beim Theater, auch abseits von Dingen wie Körpersprache und Diktion. Es ginge um das Zusammenspiel; gleich sei es im Leben abseits der Bühne. Für Theater brauche es vor allem auch Zeit, sowohl vor als auch auf der Bühne: Er hätte sich auf diesen Abend gefreut, der perfekte Wochenabschluss. Kölliker äusserte die Hoffnung, dass auch in der Ostschweiz Schultheater wieder öfters stattfänden.

Später, im persönlichen Pausengespräch, wird Kölliker ergänzen, dass Schultheater eben eine Ressourcenfrage sei – und damit neben der Zeit auch eine Frage des Geldes. Er zeigte sich aber zuversichtlich, dass 2016 die zweiten Ostschweizer Schultheatertage durchgeführt werden.

"Man lernt viel fürs Leben beim Theater": Bildungsdirektor Stefan Kölliker.

We are the World

Nach Kölliker betritt die vierte Klasse des Schulhauses Kirchplatz in Wil die Bühne. «Vernetzt – oder doch nicht?» setzt wie das Thurgauer Stück auf konkrete Bilder: Ein Fussballtor, Fischer (mit Netz), eine balletttanzende Spinne … aber ist im Kern deutlich metaphorischer geworden.

Das Stück beginnt mit einem Knäuel, die Kinder bilden ein Netz aus Armen und Händen. Einige lösen sich aus diesem Netzwerk, setzen sich mit Computer-Tastatur, iPad und Handy an den Rand der Bühne. Gefangen im World Wide Web, aber nicht mehr mit ihren Kameradinnen und Kameraden. Erst nachdem sich zwei Vögel opfern und den Strom kappen, finden die Kinder wieder zusammen, sind wieder «richtig» vernetzt. Sie singen «Let’s make this world a better place – for you and me.»

Beziehungsknoten

Als letztes treten 13 Schüler der 1. bis 3. Oberstufe Goldach auf. Sie spielen «Tage in Schotstek» des Goldacher Oberstufenlehrers Georg Göggel, das wohl komplexeste Stück an diesem Abend. Die Handlung ist verschachtelt, die Schülerinnen und Schüler arbeiten mit Zeitlupe, eingefrorenen Bildern, Prolog und Epilog, sprechen das Publikum direkt an.

Ein toter Briefträger bildet die Rahmenhandlung, er erinnert sich im Jenseits an drei Familien seines Quartiers: Eine Migrantenfamilie – die Mutter bedacht, dass ihre Kinder «anständig» blieben, der Vater auf den Einbürgerungstest büffelnd. Zwei schrullige, alte Schwestern leben im zweiten Haushalt, eine alleinerziehende Mutter mit Streber-Mädchen und Hänger-Sohn in einem dritten. Die drei Familien haben bis auf den Briefträger nichts gemeinsam. Oder vielleicht doch? Als er stirbt, vernetzen sie sich auch ohne das Hilfsmittel «Post», was er mit freudiger Gelassenheit und nicht wenig Humor aus dem Jenseits kommentiert.

Aufwärmen auch fürs Publikum.

Ein gelungener Querschnitt, ein gelungener Abend

«Tage in Schotstek» ist klar das erwachsenste Stück des Abends – voller zweideutiger Dialogzeilen, die die jungen Schauspieler überzeugend rüberbringen. Es überrascht nicht, dass mit dem Alter auch die Komplexität der drei Aufführungen wächst. Wenn die Primarschüler aus Kesswil noch konkrete Bilder zeigen, finden sich bei der etwas älteren Klasse aus Wil bereits erste übertragene Bedeutungen. Die Teenager aus Goldach fassen den Begriff «Netz» am metaphorischsten – ihnen geht es weder um Spinnen- noch Fischernetze, sondern: um Beziehungen.

Die Projektleitung der ersten Ostschweizer Schultheatertage hat mit der Abschlussveranstaltung also ins Schwarze getroffen. Die Stücke spielen nicht gegen-, sondern miteinander. Sie stellen wie erhofft einen Querschnitt dar, würdigen die Arbeit aller 23 Theatergruppen – ohne Wertung, Sieger oder Verlierer. Dafür mit reichlich Hirnschmalz und nicht wenig Spass. Nicht nur, als das Publikum angehalten wird, doch bitte bei den Theater-Aufwärmübungen mitzumachen.

Und die Sache mit dem Handy- und Fotografieverbot? Eines der Stücke drehte sich immerhin explizit ums Internet. Mario Frachi lacht: Nein, nein, die Verbote seien nicht wegen Cyber-Bullying erlassen worden. Aber wenn die Eltern ununterbrochen Fotos und Videos der Aufführungen machen würden, vielleicht noch mit ständigem Blitzlicht, das wäre dann doch etwas zu viel des Guten gewesen, nicht?

Ich denke, da hat er nicht unrecht.

www.theatersg.ch

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