von Mélanie René, 01.02.2015
Der Bart ist ab (Video)
Die 24-jährige Genferin Mélanie René vertritt die Schweiz am Eurovision Song Contest 2015. Ihr belangloser Elektro-Pop überzeugte Jury und Publikum in der SRF-Finalshow. Fragt sich nur: Warum bloss?
Also bitte. Vier der sechs Interpretinnen und Interpreten hätte man guten Gewissens nach Wien schicken können. Etwa die Multikulti-Truppe „Timebelle“ mit ihrem Thurgauer Drummer (hätte uns den Balkan gesichert) oder den Thurgauer St. Galler Andy McSean. Aber mitnichten die Siegerin, deren keimfrei produzierter Düdeldü-Elektro-Pop spurlos in den Lifts der Shopping-Center verwehen wird, kaum flötet er aus den Lautsprechern.
Nach geschlagener Schlacht: Samuel Forster von "Timebelle" (links) und Andy McSean. (Bild: Rolf Müller)
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Sorry, liebe Romands, die ihr am Samstag in der Bodensee-Arena in Kreuzlingen so sympa mitgefiebert habt. Ich verstehe Lokalpatriotismus. Und vielleicht kommt Mélanie in Österreich ja doch ganz gross raus. Aber nur dann, wenn sämtliche Songs aller anderer Nationen ganz genau identisch diese unmöglich abgeschliffene Beliebigkeit haben. Denn: Ihr Lied „Time to Shine“ (!) hat ein ganz, ganz klein wenig Dreck drin: Ein auf böse gemachtes kurzes Gitarrensolo, so etwas federflaumig Eddie van Halen.
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Und wie war’s sonst so? Gut. TV-Welt. So unterhaltsam, wie eine über zweistündige SRF-Livekiste mit Werbepause eben sein kann. Die Medien-Lounge war voll, über 50 Schurnis da, ein Man in Black mit Knopf im Ohr kontrollierte den Zugang. Wahrscheinlich, weil es belegte Brötli hatte. Und W-Lan. Das gabs bei „Kampf der Orchester“ nicht. Beiden Anlässen gemein hingegen war Moderator Sven Epiney, der das Publikum jeweils schon vor Übertragungbeginn routiniert und professionell launig in den Sack steckt.
"Timebelle" mit "Singing about Love". (Bilder: SRF/Mirco Rederlechner)
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Conchita Wurst sang ihr Siegerlied des Contests 2014, in glänzende Stoffe drapiert. Etwas fürs Auge. Das Publikum mochte es, obwohl das Stück fürs Ohr ebenfalls lediglich Schmalkost ist („Das macht der Bart, nur der Bart“, meinte ein Journalistenkollege einen Sitz weiter). Apropos Bart: Diverse Fans von Bartträger Andy McSean hatten sich solidarisch welche angeklebt. Sie hätten sich den Leim sparen können.
An der Stimmung des Publikums in der Bodensee-Arena war das nicht zu erkennen. McSean brachte sein „Hey Now“ und als Cover einen Song von Snowpatrol knackig und unter starkem Applaus. Ebenso wie „Timebelle“ mit „Singing about Love“ und einem rockig gut abgehangenen „Rude Boy“-Cover von Rihanna. Auch Licia Chery kam bei den Leuten gut an.
"Hey Now": Andy McSean.
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Dann waren die Bärte ab und die Show vorbei. Unsere mehr oder weniger Thurgauer gaben sich gelassen: „Timebelle“ holte im Voting immerhin den zweiten, McSean den vierten Platz. Während der Singer/Songwriter „jetzt eben statt auf der grossen Bühne wieder in Pubs“ spielen will, arbeitet „Timebelle“ an einer CD. Sie geben sich unverdrossen. Schade gleichwohl. Beide hätten klar überzeugendere Swissness nach Wien gebracht.
Auftritt der Siegerin Mélanie René an der SRF-Finalshow:
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Vienna calling - thurgaukultur.ch vom 29.01.2015
Multikulti-Trumpf (Timebelle) - thurgaukultur.ch vom 16.01.2015
Ostschweizer Wurst (Andy McSean) - thurgaukultur.ch vom 10.12.2014
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