von Kathrin Zellweger (1948-2019), 11.09.2013
Leidenschaft unter besonderen Umständen
Künstler, die sich ihrer körperlichen Behinderung nicht beugen, müssen Kämpfernaturen sein. Die Thurgauerin Renate Flury ist eine von vier Kunstschaffenden, deren Widerstandswille und künstlerische Kraft in einem Dokumentarfilm gezeigt wird, für den der Kanton 30‘000 Franken gesprochen hat.
Kathrin Zellweger
„Ich verstehe diesen Film als ein langes Gespräch. Ich überlege mir oft, was ich preisgeben und wie ich mich darstellen will – und dann kommt doch alles ganz anders“, sagt Renate Flury. Seit nunmehr einem Jahr bewegen sich der Dokumentarfilmer Urs Graf und die Künstlerin thematisch und menschlich aufeinander zu. Behutsam und mit langen Pausen, in denen sie sich beispielsweise fragt, ob der Arbeitstitel „Unstillbares Feuer“ des Films wirklich trifft, was sie in sich spürt. „Einerseits ist es wahr, dass ich meine Krankheit von meinem Leben als Künstlerin immer weniger trennen kann. Aber es gibt auch jenen anderen, ganz zentralen Aspekt, dass ich der Kunst gar nicht ausweichen kann und will. Sie ist, was mich am Leben hält. Für mich muss es ein Film werden über eine Leidenschaft unter besonderen Umständen. Ein anderer Film machte für mich keinen Sinn.“
Von Markus Landert empfohlen
Es war Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Kartause Ittingen und Ittinger Museum, der dem Filmer Urs Graf den Namen der Weinfelder Künstlerin nannte. „Ich führe es darauf zurück, dass Markus mich als engagierte, vernetzt denkende Künstlerin kennt.“ Graf ist ein Dokumentarfilmer, der bekannt ist für seine respektvolle Nähe, mit der er Personen porträtiert. Diesmal geht es ihm um vier Kunstschaffende*, eine Frau und drei Männer, die ihr künstlerisches Arbeiten trotz fortschreitender körperlicher Einschränkungen nicht aufgeben, die ins Zentrum ihres Lebens die Kraft der Kunst stellen und nicht ihre Krankheit.
Vor 13 Jahren MS-Diagnose
Eben ist Renate Flury 60 Jahre alt geworden, vor 13 Jahren wurde bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert. Die Krankheit zwang sie, ihr Lieblingsmaterial, den Stein, beiseite zu lassen. In ihren damaligen Werken stand oft der Körper im Zentrum – so als ob sie ahnte, dass sie etwas ausloten muss, für das sie nur beschränkt Zeit haben wird. „Ja, mein Körper war mein Daheim. Durch die Krankheit ist er mir fremd geworden, aber nicht abhanden gekommen.“
Als ihre Kräfte für die Schwerarbeit am Stein schwanden, wandte sie sich gefügigeren Materialien zu: Schaumstoff, Wachs und Gips, der Computerzeichnung und der Fotografie. In letzter Zeit wurde das Feinstoffliche, wahrscheinlich auch im übertragenen Sinn, noch wichtiger. „Meine Stärke liegt heute im Ausdruck dessen, was Bewegung ist, nicht indem ich die Bewegung zeichne, sondern indem sich die Bewegung selbst darstellt.“ Vermehrt arbeitet sie auch mit Klängen, Musik, Tanz und Luft. Wer weiss, ob das Flüchtige und die Bewegung sie heute auch darum in ihren Bann ziehen, weil sie sich damit selbst geschmeidige Leichtigkeit schenken kann …
Der Film als Chance
In stillen Stunden wird sich Renate Flury ab und an fragen: Warum habe ich mich darauf eingelassen und was wird mit mir, wenn der Film fertig ist? „Wenn ich mir anschaue, was und wie Urs mich gefilmt hat, dann erschrecke ich manchmal über meinen Körper. Diese Zusammenarbeit bringt mich in verschiedener Hinsicht an meine Grenzen. Aufhören will ich dennoch nicht. Ich weiss mittlerweile, dass der Mensch mehr aushält, als er glaubt. Ich sehe diese Herausforderung als Chance: Ich lerne ein mir unbekanntes Medium, den Film, und die Arbeit eines Regisseurs kennen. Beides lässt mich wachsen.“
Ungesagt bleibt und ist dennoch klar: Dieser Film ist auch Renate Flurys Begegnung mit sich selbst. Die Einschränkungen zwingen sie, sich immer wieder neuen existentiellen Fragen zu stellen. „Der Film reisst mich nicht heraus, sondern ist mit mir dort, wo ich bin. Ich wünsche mir, dass er über mich hinaus zeigen wird genauso wie mein Werk.“
***
Renate Flury, 1953, Steinbildhauerin. Multiple Sklerose, ist auf Rollator und Rollstuhl angewiesen. Sie möchte weniger Medikamente einnehmen, damit sie die Präsenz nicht verliert, die sie als Künstlerin braucht. Auch wenn der Arzt ihr sagt, dass jede Überforderung einen weiteren Krankheitsschub erzeuge, sei ihr grösstes Glück das intensive Arbeiten an ihren Bildern, selbst wenn sie nachher total erschöpft daliege.
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