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von Ruth Bossert, 07.04.2016

Der verlorene Sohn kehrt zurück

Der verlorene Sohn kehrt zurück
Elsbeth Tschopp in ihrem Arbeitszimmer in Frauenfeld. | © Ruth Bossert

Im vergangenen Jahr hat die Berner Literaturwissenschafterin und Psychologin Anna Stüssi die Biographie von Ludwig Hohl veröffentlicht. Am Dienstag, 19. April, stellt die Biographin zusammen mit der ehemaligen Kantonsschullehrerin Elsbeth Tschopp die prägenden Jugendjahre des ehemaligen Sirnachers in der Bibliothek vor.

Interview: Ruth Bossert

Elsbeth Tschopp, Sie haben sich intensiv mit dem Schriftsteller Ludwig Hohl auseinandergesetzt, der seine Kinder- und Jugendjahre in Sirnach verbracht hat und die Kantonsschule in Frauenfeld besuchte. Ist es die regionale Nähe oder weshalb interessieren Sie sich für den verlorenen Sohn aus Sirnach?

Als Kind schon wusste ich, dass es einen Dichter Ludwig Hohl gibt, der aus unserer Gegend stammt. Dessen anspruchsvolles Werk lernte ich erst im Studium kennen. Als Kantonsschullehrerin interessierte mich auch die unglückliche Karriere unseres ehemaligen Schülers. Mit einer Klasse ging ich diesen Spuren nach, woraus für das Schuljubiläum 2003 die Produktion «Der verlorene Sohn» entstand.

Ludwig Hohl wurde im Jahr 1904 geboren und wuchs ab seinem siebten Lebensjahr im früheren Pfarrhaus und heutigen Alterszentrum Grünau auf. Dort schrieb er als Siebzehnjähriger das Tagebuch. Weshalb ist das so aussergewöhnlich?

Aussergewöhnlich ist, dass von Hohl sowohl Kinder- wie Jugendtagebücher erhalten geblieben sind. Hohls authentische Zeitzeugnisse aus unserer Region sind von allgemeiner und bleibender Gültigkeit, vor allem, was das Pädagogische betrifft. Von Kindern, die später das Schreiben zu ihrem Beruf gemacht haben, sind kaum solche Zeugnisse erhalten.

Sie selber sind in Münchwilen aufgewachsen. Haben Sie die Familie von Ludwig Hohl noch persönlich gekannt?

Der alte Pfarrer im schwarzen Gewand war im Dorf immer wieder zu sehen. Wie er auf den Friedhof ging, stets allein. Gelegentlich platzte er unangemeldet in eine Schulstube, worauf Lehrer und Schüler erstarrten. Über die Familie machten Gerüchte die Runde, auch über den «verlorenen Sohn».

Ludwig Hohl fühlte sich von seiner Mutter nicht verstanden und auch sein Vater war kein Gesprächspartner für ihn. Wie kam das?

Aus dem Jugendtagebuch und aus späteren Gesprächen kann man schliessen, dass ihm der Vater näher stand als die Mutter. Von beiden fühlte er sich nicht verstanden. Hohls Elternhaus war sicher kein warmes Nest.

In der Biographie steht, dass die Lehrer an der Kantonsschule Frauenfeld mit dem unterforderten Hochbegabten ihre Mühe hatten und er die Schule wegen schlechter Leistungen vorzeitig verlassen musste. Ein Widerspruch?

Nein! Denn hochbegabt und interessiert war er fast nur in den geisteswissenschaftlichen Fächern. Was ihm nicht lag, hat er vernachlässigt, abgelehnt, sogar verhöhnt. An die Lehrer stellte er hohe Anforderungen, fachlich und menschlich. An sich selbst auch, aber nicht in allen Belangen. Die Beschlussprotokolle des Konvents lassen viel Platz offen für Interpretationen. Wurde Hohl relegiert oder nicht promoviert? Er verschleierte seinen Abgang später selbst: «Meine Schulbildung endete irgendwie».

Ludwig Hohl hatte später nie mehr Kontakt mit dem Thurgau, er verabscheute den schweizerischen Dialekt, weshalb?

Der Bruch mit seiner Herkunft war radikal. Er brach mit der Schule, dem Elternhaus, mit der Sprache seiner Kindheit, mit der Gegend, sogar den ersten Vornamen legte er ab, denn er trug den gleichen wie sein Vater. Warum dieser Bruch? Es muss vieles zusammengekommen sein, bevor ein schlimmes Ereignis wohl das Fass zum Überlaufen brachte. Hohl spricht von einer Intrige gegen die Familie. Vertrieb ihn die Scham?

Weshalb sollte man die im vergangenen Jahr erschienene Biographie der Jahre 1904 bis 1937 von Anna Stüssi «Unterwegs zum Werk» lesen?

Um den Schriftsteller Hohl rankten sich schon zu Lebzeiten viele Legenden. Das machte ihn interessant. Anna Stüssis Biographie stützt sich auf unzählige unbekannte Quellen, die auch Hohl-Kennern Neues erschliessen. Das entmystifizierte Leben Hohls ist noch spannender als das Legendäre. Es zeigt uns einen begabten, ewig suchenden, aus unserer Gegend stammenden Menschen, der seelische Verletzungen in Kindheit und Jugend nie verwinden konnte und dennoch Aussergewöhnliches schuf. Sein Werk, in dessen Zentrum «Die Notizen» oder «Von der voreiligen Versöhnung» steht, hat zahlreiche Schriftsteller wie Max Frisch, Peter Bichsel und Adolf Muschg geprägt.

***

Anna Stüssi: Ludwig Hohl. Unterwegs zum Werk. Eine Biografie der Jahre 1904 bis 1937. Wallstein-Verlag

Gespräch in der Bibiothek Sirnach

Am Dienstag, 19. April 2016 wird um 19.30 Uhr in der Bibliothek Sirnach die Biographie „Ludwig Hohl - Unterwegs zum Werk“ vorgestellt. Anna Stüssi, welche Hohls Biographie verfasst hat und Elsbeth Tschopp, ehemalige Kantonsschullehrerin aus Frauenfeld und aufgewachsen in Münchwilen, werden im Gespräch das Leben und Wirken von Ludwig Hohl aufzeigen. Besonders interessant wird es sein, von Hohl’s Spuren in der Region zu hören. Der Eintritt ist frei. (rb.)

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