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13.04.2012

„Hereinspaziert“ - von innen und aussen betrachtet

„Hereinspaziert“ - von innen und aussen betrachtet
„Männer putzen keine Scheisshäuser“, sagt der Asylbewerber in Peter Höners Stück „Hereinspaziert“. Von links nach rechts: Annette Kuhn, Katharina Alder, Uwe Schuran und Markus Keller auf der Bühne des Projektlokals „Kultur im Shop“ in Kreuzlingen. | © Bernhard Fuchs

Die Premiere des „Stücks Migration“ des Freien Theaters Thurgau ist über die Bühne. - Eine Kritik aus der Spieler- und Zuschauerperspektive.

thurgaukultur.ch wagt einen neuen Rezensionsansatz und wählt die Innen- und Aussensicht auf Peter Höners Stück „Hereinspaziert“ zu den Themen Migration, Asylwesen und Integration. Die Schauspielerin Katharina Alder (ka) berichtet von der Auseinandersetzung zwischen Autor, Regisseur und Akteuren. Redaktorin Brigitta Hochuli (ho) schildert ihren Eindruck als Zuschauerin sowie die Reaktionen des durchwegs erfreuten Publikums. Die Texte sind unabhängig voneinander und ohne gegenseitige Absprache geschrieben worden. (red)

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Zum Stück

Vorab muss festgehalten werden, dass sich die Arbeit an dieser Materie als sehr schwierig erwies, betrifft das Thema Migration doch uns alle und findet bei jedem einen unterschiedlichen Umgang. Die unlösbare Aufgabe war es daher, die unterschiedlichen Stossrichtungen, Meinungen und theatralischen Geschmäcker von Regisseur, Autor und Schauspielern unter einen Hut zu bringen.

Die Hauptfrage, auf die wir immer wieder zurückgeworfen wurden, war, was wir mit dem Stück, welches uns vorgelegt wurde, aussagen wollen. Geeinigt hat man sich nach vielen Diskussionen auf das Aufzeigen von Mechanismen in der ganzen Asylproblematik, das Spielen kleiner Flashs, ohne figürlichen Schwerpunkt. Dennoch sollten diese Mechanismen in die Geschichte dreier Figuren eingebettet werden, was unter anderem auch das Verständnis für den Zuschauer erleichtert. Auf einen dramaturgischen Bogen verzichtet das Stück ganz und die einzige Kohärenz besteht in der Wiederkehr der einzelnen Elemente von Figuren, Kochszenen, Themen und Musik. (ka)

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Das war die Vorgabe: Der Stoff - Asyl und Migration in Kreuzlingen - sollte gemäss Regisseur Jean Grädel nicht mit Sozialromantik, sondern mit einer komödiantischen Groteske bewältigt werden. Mit Flashs auf Asylanten- und Migrationsgeschichten, nicht mit Hilfe einer Dramaturgie traditioneller Theaterstücke. „Kunstvoll, schräg und frech“ sollten die professionellen Schauspieler die amtlich-politische Ebene zeigen, „authentisch“ sollten die Laien mit Migrationshintergrund wirken, sagte Autor Peter Höner in einem TZ-Interview. Zwei Welten, zwei Bühnen. Hier das Empfangs- und Verfahrenszentrum des Bundes (EVZ), da eine Küche. Was sich für den Zuschauer als Manko dieser Stückanlage erweist: Die Spielergruppen führen ihr Eigenleben. Es fehlt zwischen Bühnen und Spielern eine Brücke! (ho)

Zum Inhalt

Zwei Bühnen, zwei Spielergruppen. Auf der einen die Asylpolitik, die berechnenden Asylbewerber, die fiesen oder einfühlenden Beamtinnen und das bedauernswerte, anrührende Einzelschicksal. Auf der andern die Küche mit den Kreuzlingern, die bei der Essensvorbereitung von ihrem Leben vor und in der Schweiz erzählen.

Es ist eine geniale Idee, die der Autor im Interview formuliert hat: Zweimal geht es um Gastfreundschaft. Hier Asylverfahren, dort die Einladung zum Mitessen. Doch vor Ort nahm die Idee erst Gestalt an, als die Köche nach der Vorstellung dem Publikum ihr Essen anboten. Hier wurde eine Chance verpasst: Wie gehen Ausländer, wie die Schweizer mit der Gastfreundschaft um? Verhaltensweisen hätten sichtbar gemacht werden können. Statt dessen gab‘s viele starke Einzelszenen auf der Schauspielerbühne und bewegende, manchmal mit fremdem Sprachwitz gewürzte Erzählungen auf der Laienebene. Das eine hatte mit dem andern trotz des gemeinsamen Themas wenig zu tun. (ho)

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Für mich als Schauspielerin ist es ganz schwer, zur ganzen Thematik und schliesslich auch zum Projekt einen theatralen Zugang zu finden, denn ich stosse nicht auf eine abstrakte Geschichte, die Inhalte transportiert, sondern auf eine Art Realitätsdokudrama, wo man eigentlich eine Kamera draufhalten müsste. Das szenische Material bietet kaum Möglichkeiten zur Spielentfaltung und ist sehr nüchtern, sehr filmisch und real gehalten.

Was metaphorisch zwar durchaus Sinn macht, für mich aber dennoch auch etwas schade ist, sind die klare Abgrenzung zwischen Profi- und Laienbühne und der kaum vorhandene Kontakt dazwischen. Die Alternative für mich wäre gewesen, mit diesem nicht vorhandenen Kontakt dann auch inhaltlich umzugehen und ihn absichtlich hervorzuheben. Aus rein persönlicher Sicht schätze ich die Anwesenheit der Kreuzlinger Laien sehr, doch hätte ich mir einen offeneren und radikaleren Umgang in der Theatersituation gewünscht. (ka)

Zur Wirkung

Das Stück arbeitet ganz stark mit Klischees, was sich für Jean Grädel und uns als harte Knacknuss erwies. Denn einerseits finden diese Klischees ihre tatsächliche Existenz in der Realität, andererseits galt es, höllisch aufzupassen, nicht in plakative Gefilde abzudriften und diskriminierend zu werden. Dabei war das Problem weniger die Diskriminierung von Ausländern, als vielmehr der unbehagliche Rassismus gegen sich selbst und die eigene Spezies, der plötzlich aufkam. Auch für die Handhabung dieser Aufgabe war die Hauptfrage nach unserem Ziel von essentieller Wichtigkeit und lag immer wieder brach im Probenraum. (ka)

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Eine Umfrage bei vielen Zuschauern ergab: Das Stück gefiel einhellig. Gerade die zwei verschiedenen Ebenen mit den zugespitzten Szenen auf der einen Seite und den Erfahrungsberichten auf der anderen Seite fanden sie interessant, gut gemacht und gut gespielt. Heiteres Lachen gab‘s bei einigen Sprüchen der Laien. Ihre Erzählungen berührten. „Das ist genau unsere Geschichte“, sagten zwei seit Jahrzehnten in Kreuzlingen integrierte Süditaliener.

Lacher gab‘s aber auch zu Szenen der Professionellen. Ein eher fieses Lachen, das manchmal entsteht, wenn Klischees bedient werden. Etwa wenn sich der Asylbewerber weigert, das Scheisshaus zu putzen, er sich mit seinen Langfingertricks brüstet, die Suva-Vertreterin ihr Gutmenschentum zum Ausdruck bringt oder Schweizer aus sicherer Distanz ihr Urteil über Asylbewerber zum Besten geben. Hier wurde deutlich, wie sehr es in der Migrationsproblematik am gemeinsamen Willen zur Verständigung fehlt. Aber grotesk war das nicht, wie Jean Grädel es angesagt hatte. Für eine Groteske fehlt dem Stück die heilsame, abschreckende Wirkung. (ho)

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Abschliessend lässt sich sagen, dass der Prozess der letzten Wochen doch auch sehr sinnbildlich für die Situation in der Asylpolitik steht, die unterschiedlichen Richtungen von Autor und Darstellern mit einem Regisseur dazwischen, der das Ganze schliesslich zusammenhalten muss, widerspiegelt auch ein Stück weit die Zerrissenheit und Vielschichtigkeit des politischen Problems. (ka)

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Gespielt haben am Premierenabend die Spanierin Ana Tomàs, der Kosovare Avni Avdyli, der Deutsche Harald Gessner, die Portugiesin Marta Macedo und die Philippinin Teresita Papa. Die professionellen Schauspieler sind Katharina Alder, Annette Kuhn, Markus Keller und Uwe Schuran. Das Bühnenbild mit knallroten Möbeln ist von Felix und Stefan Rutishauser. Das Licht besorgt Christian Stricker und Schuberts Winterreise hat Daniel R. Schneider auf „Hereinspaziert“ passend arrangiert. Autor des Stücks ist Peter Höner, Regisseur ist Jean Grädel, Gründer des Freien Theaters Thurgau.

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● Die Kritik der Thurgauer Zeitung zum Premierenabend ist hier zu lesen.

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