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Dieter Berke – der nach der verdichteten Zeit suchte

Dieter Berke – der nach der verdichteten Zeit suchte
Selbstporträt von Dieter Berke, entstanden während einer seiner Amerikareisen: Ohne Titel, S/W-Polaroid | © Dieter Berke/Quelle Kunstmuseum Thurgau

Seinen Hut mit der Feder hatte er schon lange abgelegt, am Dienstagmorgen – unerwartet-erwartet – streifte Dieter Berke auch alles andere ab. Noch am Tag zuvor, im Rollstuhl, ging von ihm jene Präsenz, Klarheit, Festigkeit aus, die man an ihm kannte. Nur dass da, auch das spürte man, alle drei Attribute schon eine andere Textur und einen anderen Fokus hatten. Dieter Berke ist nicht gegangen, sondern hat die Wirklichkeit gewechselt. Davon war er überzeugt.

Kathrin Zellweger

Er sitzt da, den Kopf auch beim Reden gesenkt, die Arme von den vielen Spritzen geschunden. Dieter Berke wirkt auf eine eigenartige Weise kräftig und präsent. Seine Stimme ist fest, seine Gedanken klar; er holt weit aus, wenn er etwas erklärt. Seit anderthalb Jahren setzt er sich mit dem Tod auseinander. Anders jedoch als jene Male, als er sich ins Leben zurückkämpfte und kaum jemand glaubte, dass er es schaffen könnte. Warum das alles? fragt er schon lange nicht mehr. Angst vor dem Tod hat er keine. „Ich glaube an die Fortsetzung des Lebens in einer körperlosen Präsenz. Nur müde bin ich, sehr müde, immer um die richtige Dosierung der Schmerzmittel zu betteln.“ Zwischen zwei Schlucken Kaffee sagt er an diesem Spätsommermorgen: „Das Leben ist eigentlich nichts anderes als Loslassen.“

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Geschenkt wird Dieter Berke wenig: Von der Mutter, unter dem Druck des repressiven Umfeldes, mit drei Jahren weggeben, dann von ihr, einer ihm fremden Frau, als Zwölfjähriger wieder abgeholt. Mit der Sehnsucht nach Wärme reist er als 18-Jähriger nach Indien. Höhenflüge und Abstürze mit Drogen. Bei einem Unfall, im Einsatz als Fotograf für den Motorradsport, erblindet er auf einem Auge und ist seither keinen Tag mehr ohne bohrende Schmerzen. Weitere gesundheitliche und andere Rückschläge folgen. Er wehrt sich dagegen, indem er mit dem Leben so arrogant umspringt wie das Leben mit ihm. Wie alle anderen verschafft er sich seinen Platz mit den Ellbogen. Er gefällt sich in der Rolle des „bad guy“. Irgendwann fragt er sich: Was soll das eigentlich? und zieht sich in die Pyrenäen zurück. „Es war ein langer, schmerzvoller Weg, mich vom beinharten Dieter zu trennen und meinem Leben eine spirituelle Dimension zu geben.“

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Seine Einzelausstellung im Neuen Shed, Frauenfeld, vom Sommer 2011 ist seine letzte, das weiss er. Er gibt ihr den Titel „time out“. Auszeit? Oder Schlussstrich? Wahrscheinlich beides. Er zeigt Lichtgemälde, die nicht nur abbilden, „sondern tief in den optischen Geist eindringen“. Die Bilder der Ausstellung kreisen um die Themen Krebs, Depression, Angst und Hoffnungslosigkeit. Das Verstörende der Bildinhalte wird verstärkt durch die Plexiglas-Oberfläche, in der sich der Betrachter gespiegelt sieht und damit mit seiner eigenen Hinfälligkeit und Endlichkeit konfrontiert wird. „Ich musste mir und dem Publikum nichts mehr schenken.“ Erkenntnis aus einer langen Vorgeschichte.

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Ende der Achtzigerjahre realisiert Berke, dass er den Kampf gegen seine Krankheit, den Schmerz und die Einsamkeit in seinem Leben nicht alleine in den Griff bekommt. Er geht zu einem amerikanischen Schamanen. Richtiggehend auseinander genommen habe ihn dieser Mann vom Stamm der Cherokee und wieder neu zusammengesetzt. Wieder zu Hause beginnt er das Fotoprojekt „Die Thur. Von der Quelle bis zur Mündung“ eine Arbeit, die seinem Leben wieder eine Aufwärtsbewegung gibt. Ein Jahr lang wandert er mit seiner Bergamasker-Hündin der Thur entlang. Es ist eine Pilgerreise zu sich.
Fortan ist er offen für die spirituelle Kraft eines Ortes. Dieter Berke lebt nicht nur anders, er fotografiert auch anders. Er entsinnt sich der Camera Obscura und wird ein Meister darin. Er tüftelt mit der richtigen Lochgrösse, setzt Siliziumplättchen und Splitter von Bergkristallen ein, um die Lichtbrechung zu beeinflussen, er forscht und experimentiert. Langsam und respektvoll nähert er sich seinen Objekten. Immer wieder zieht es ihn in die Wüste Kaliforniens und in den Wald. Manchmal wartet er tagelang auf die Stunde mit dem richtigen Lichteinfall. Kompromisslos und unbeirrbar. „Licht und Schatten machen aus einer Fotografie ein Werk.“ Jene, die sich für seine Arbeiten Zeit nehmen und offen sind, entdecken in ihnen sich überlagernde Welten und Wesen, für die uns die Namen abhanden gekommen sind.

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Dieter Berke schaut kurz auf und sagt: „Die Fotostiftung Schweiz in Winterthur, der Olymp der Schweizer Fotografie, hat Arbeiten von mir angekauft. Auch Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau, ist von meiner fotografischen Handschrift überzeugt.“ Für beides ist er dankbar. Denn was beruflich in seinem Leben bis jetzt nicht gewesen ist, wird nicht mehr sein. Das Reden hat ihn ermüdet; die Wirkung der Medikamente hat nachgelassen. Schmerzen überfluten seinen Körper. Er schliesst die Augen. Die Zigarette ist bis zum Filter heruntergebrannt.


Über alles redet der 58-jährige Mann sachlich, fast emotionslos. Nur als er von Rahel Müller, seiner Künstlerkollegin und Freundin, spricht, „mit der mich eine intensive, schwierig-schöne Partnerschaft verbindet, ohne den Zwang ein Paar sein zu müssen“, zittert seine Stimme. Ohne sie, die er in einem Text Zauberin nennt, hätte er die letzten Wochen nicht durchgestanden. „Sie und meine Tochter Nahani haben Licht in mein Leben gebracht.“

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Dieter Berke, 1953, geboren ins Säckingen (D), aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt (ehem. DDR), machte in Zürich eine Lehre als Fotograf und wurde Pressefotograf. 1985 Gründung seines Fotostudios in Frauenfeld, Schwerpunkte: Werbung, Industrie und Luftbild. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, nicht nur für seine kommerziellen, sondern auch für seine Kunstfotografien. Dreimal erhielt einen Förderbeitrag des Kantons Thurgau für Studienreisen in die USA und Forschungen Camera Obscura mit Farbfilm. – Dieter Berke lebte in Pfyn. Er starb am 28. August 2012.

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