von Barbara Camenzind, 13.11.2017
Zauberhafte Vergänglichkeit
Alte Musik und Elektronik: Geht das zusammen? Und wie! Gemeinsam mit dem französischen Ambient/Electronica-Künstler Sylvain Chauveau gastierte am Sonntag das Renaissance-Ensemble chant 1450 in der Alten Kirche Romanshorn. Das Programm „Quel monstre voy-je-là“ ist ein kongenialer Wurf. Es kombiniert zeitgenössische Klänge mit dem Adel der französisch-calvinistischen Kompositionskunst von Pascal de L’Estocart und dem Genfer Psalter. Der perfekte Hörgenuss im Reformationsjahr, anlässlich der Reihe klangreich.
Selten schön. Damit könnte die Rezension schon aufhören, es wäre alles gesagt. Da aber die Musik so speziell, so unbekannt ist und die Darbietenden Hervorragendes geleistet haben, lohnt es sich, ein paar Worte über diese Auftakt-Aufführung der neuen Klangreich-Saison in Romanshorn zu verlieren. Selbst Petrus agierte als uneingeladener Mitspieler, indem er die alte Kirche Romanshorn in ein apokalyptisches Unwetter tauchte. Die perfekte Kulisse für die fünf Sänger und den Elektronik-Künstler, die die Vergänglichkeit der Welt besangen.
Der Genfer Psalter, auch Hugenottenpsalter genannt, ist in der Ostschweiz auch in reformierten Kreisen eher wenig bekannt. Das Ensemble chant 1450 und Chauveau inszenierten ein schwermütig-faszinierendes Crossover mit gregorianisch anmutenden Wechselgesängen, der sich wie ein roter Faden durch das Programm zog. Sylvain Chauveau blieb ganz bei der Melodie und unterstrich mit leisen Oktav-und Quintparallelen die Texte der Psalmen, die von Klagen, Hoffnung und dem Wasser der Gnade handelten. Es gibt - beziehungsweise es gab in Frankreich eine grosse reformierte Bewegung. Mit der Bartholomäusnacht, der „Pariser Bluthochzeit“ anno 1572, wurde deren Ende eingeläutet.
Gesangskunst in Vollendung: chant 1450 Renaissance-Ensemble in der Alten Kirche Romanshorn. Bild: Barbara Camenzind
Meister der Proportion
Paschal de l’Estocart, ca. 1539-1584, altem französischem Adel entstammend, war ein Renaissancemensch im besten Sinne. Humanistisch gebildet, tauchte er ein in die gelehrte Welt des calvinistisch geprägten Genfs. Die Musik sollte das Wort unterstreichen: So stringent ging l’Estocart bei der Vertonung von Antoine de Chandieus „Octonaires“ (Achtzeilern) vor. Eine grosse Kunst, denn es galt auch die Proportionen einzuhalten, die jedem guten Renaissancemadrigal zu Grunde liegen. Diese Musik ist aufgebaut wie ein griechischer Tempel. Klingende Architektur sozusagen. Die Sängerin und die Sänger, fein geführt durch Tenor Daniel Mannhart, erwischten jeden Taktwechsel homogen und zauberten die Verse über die lasterhafte Welt, die Stimme der Tugend und das Monster, dass da zu sehen ist (das Konzert trug den Titel "quel monstre voy-je là?"), wie hörbare Bilder in den wunderbaren Raum. Was besonders gefiel: Die vollkommene Ausgewogenheit zwischen Aussage und Komposition. Nichts war aufgesetzt, die Sänger führten ihre Stimmen eigenständig, mit klarer Diktion und zarter Mischung. Es war eine Interpretation weit weg vom allzu glattgeschliffenen „Alte-Musik-Gehabe“. chant 1450 sang sich erdig und farbig in die Herzen der Zuhörenden.
Chaveau, der Klangzauberer
Zur alten Pracht der alten Töne setzte Sylvain Chauveau wohltuende Kontrapunkte. Seine Komposition Vanité 1-3 schlug Brücken zwischen Psalter und Madrigal. Die elektronisch umgebaute Gitarre spülte Obertöne in die Kirche, verbunden mit Geräuschen, Flirren und zartesten Klangkaskaden. Mit einer Art „Lesegerät“ fuhr er über die Saiten, es klang mal wie ein fernes Gewitter, dann wieder wie Musik von einem anderen Planeten. So schöpferisch kann neue elektronische Musik tönen, weit weg von simpler Synthesizer-Klangreproduktion.
Es bleibt zu hoffen, dass die Künstler bald wieder im Thurgau auftreten werden. Sie musizieren wirklich selten schön. Mit dem Konzertprogramm „Quel monstre-voy-je là“ touren sie noch den ganzen November durch die Schweiz, wobei den Fans Alter und Zeitgenössischer Musik vor allem das Konzert am 19. November 2017 in der romanischen Kirche Romainmôtier (VD) ans Herz zu legen ist.
Termin: Das nächste Konzert bei Klangreich findet am Sonntag, 3. Dezember, 17 Uhr, statt. Mehr dazu siehe Veranstaltungshinweis unten.
Weiterlesen:
"Zwischen den Welten": Mehr zum kompletten Programm der Klangreich-Reihe gibt es hier
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