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von János Stefan Buchwardt, 09.08.2017

Malen mit 70

Malen mit 70
Besuch beim Thurgauer Maler Christian Lippuner in seinem Atelier in Ermatingen. Hier vor seinem jüngsten Werk «Die Einheit brennt», das Werte wie Besinnung und Menschenverstand im Angesicht drohenden Verlusts von Solidarität und Gerechtigkeit reflektieren will. | © János Stefan Buchwardt

Ohne Umschweife ist Christian Lippuner mit dem Alterswerk in die künstlerische Karriere eingestiegen – anlässlich seines kürzlich begangenen Geburtstags gehen wir den Charakterzügen, Leitlinien und Ausformungen des Thurgauer Malers auf den Grund.

Knapp nach der Jahrtausendwende nimmt Christian Lippuner - zu diesem Zeitpunkt schon mehr als fünfzigjährig - Anlauf für eine Karriere in den Ausdrucksformen der Schönen Künste. Wo er spielerisch Ästhetik und Ethik vereint, mündet sein Œuvre in grundsätzlich politische Potenzen. Zügig macht ihn sein gesellschaftskritischer Ansatz zur bemerkenswerten Ausnahme. Und das nicht nur im Thurgau. Sein Lebenstraum spult sich folgerichtig ab:

Aufnahme des jungen Mannes aus dem liechtensteinischen Schaanwald in die Kunstgewerbeschule St. Gallen. Da war die Familie schon in die nahe Schweiz gezogen. Grafikausbildung, internationale Tätigkeit in den entsprechenden Branchen. Höhepunkt: das freiberufliche Schaffen als Maler. Es formt sich an der Beschäftigung mit der Tages- und Weltpolitik, es reibt sich an stetiger Infragestellung eigener Positionen. Lippuner wird abgelehnt, bewährt sich, erduldet Rückschläge, bleibt unbeugsam. Er sei ein Kämpfer, hält er fest. Zumeist lustvoll, so ringt er um ersehnte und verdiente Anerkennung.

Bedürftigkeit als Lebensregel

Auf die Bitte hin, sich selbst drei Adjektive zuzuordnen, fallen als Erstes «eigensinnig» und «herzlich». Nach überlanger Pause rundet «hilfsbedürftig» die Selbsteinschätzung ab. Lippuner: «Ich wünsche mir, dass man meine soziale Einstellung irgendwann einmal rundum estimiert.» Und die ist seinem Werk fürwahr tief eingeschrieben. «Mich für ein sorgfältigeres Verständnis der Welt einzusetzen, ist mir unabdingbar», so holt er weiter aus. Humanitäre Konstellationen in aller Gründlichkeit erforschen, soll hier heissen, künstlerische Arbeiten mit ethischen Positionen zu tränken.

Nicht zuletzt aus der Not einer Krebsdiagnose heraus hatte er die Tugend gemacht, dem starken Drang zur Malerei nachzugeben – das trotz des Risikos, den Lebensunterhalt nicht durchgehend absichern zu können. Bei finanziellem Notstand tritt seine Frau in die Bresche. Folgewirkungen schwerer Krankheiten wie das Guillain-Barré-Syndrom verlangten ihm körperliche und seelische Entbehrungen ab. Seiner ideelen Hingabe aber bleibt er «ums Verrecken» treu. Paradebeispiel für das klassische Stehaufmännchen? Durch und durch von philanthropischer Sicht geprägt darf Christian Lippuner als wohlerwogener Jetztmensch unter den Thurgauer Künstlern gehandelt werden.

 

Eines der neusten Bilder von Christian Lippuner, das sich förmlich einem Beckettschen Existentialismus verschreibt: «Am Rand der Welt», 2017, Öl, Acryl und Grafit auf Leinwand, 170 x 130 cm. Bild: Christian Lippuner

Homo loquens – Der sprechende Mensch

Unlängst feierte Christian Lippuner seinen 70. Geburtstag. Alt würde er ausschauen, würde er sich als solitäre Gestalt verstehen: «Wenn ich im Monolog dahinsieche, vereinsame ich. Reden ist mir notwendiges Elixier, miteinander, kooperativ. Das ist Herausforderung und wohltuende Aufmischung zugleich. Im konstruktiven Disput kann sogar Ablehnung förderlich sein.» Er will die Sturheit des Einzelkämpfers, seine Versessenheit aufbrechen. So käme er zu neuen Entscheidungsgrundlagen, die geistige Haltung bliebe beweglich.

Dass Lippuner sich aus dem aktiven Freimaurertum zurückgezogen hat, scheint auf seine Gabe der Unnachgiebigkeit zurückzugehen. Die Haltung einiger Mitbrüder in den schon vor Jahren brennenden Fragen zur Flüchtlingsthematik hätte nicht mehr im Einklang mit seinen Überzeugungen gestanden. Nach strenger interner Diskussion wird ihm klar, auch nicht den Hauch ausgrenzenden Gedankenguts dort ertragen zu wollen, wo man sich den Faktor Menschlichkeit auf die Fahnen schreibt. Von der Richtigkeit der Entscheidung sei er felsenfest überzeugt.

Homo amans – Der liebende Mensch

Im Jahr 2001 habe er in Kreuzlingen ein Aktionsprojekt lanciert und durchgeführt, das für Toleranz, Freiheit und ein Miteinander gegen Rassismus aufgerufen hat. Zusammen mit den Schulen wurde das didaktisch aufgearbeitet und erfuhr breite Unterstützung auf beiden Seiten der Landesgrenze. Ein Engagement, so liesse sich schlussfolgern, das exemplarisch seine Liebe zum friedvollen Umgang an sich dokumentiert.

Ganz aufs Private gemünzt wertschätzt Christian Lippuner die Kraft, die ihm seine zweite Ehefrau Roswitha schenkt: «Hilfe ist sie mir, wenn wir uns über Bildaussagen austauschen. Es ist ein Geben und Nehmen. Mitunter ziehe ich für abschliessend kompetente Meinungen ausserfamiliäre Vertraute hinzu. Ich war keine 40 und musste mich einer Krebstherapie unterziehen. Dass meine Frau mir aufopferungsbereit vieles erleichtert hat, hat unser Liebesbündnis nachhaltig bestärkt.»

Roswitha Lippuner – Künstlergattin, die ihrem Mann mit nutzbringendem Rat und guter Tat zur Seite steht. Foto: János Stefan Buchwardt

Homo creator – Der schöpferische Mensch

Künstlertum profiliert sich, indem es sich in Gesamtzusammenhänge einwebt. Lippuners eigene Perspektive sei also nur bedingt entscheidend: «Die des Betrachters muss ich in jedem Fall mitberücksichtigen, darf ihr aber nur kontrolliert nachgeben.» Wie der Teufel das Weihwasser, so meidet er die Gefahr, nur so aus dem Bauch heraus zu agieren. Die Wendung «in Treu und Glauben und in ehrlicher Absicht» klingt aus seinem Mund nicht nach Old School. Sie bedeutet ihm neue notwendige Einkehr. Trotz seiner Handicaps strahlt denn auch spürbare Energie aus dem Künstler.

Seine Gedankenarbeit wird zum Destillationsprozess, aus dem Hochprozentiges resultiert. Im neuen Gemälde «Am Rand der Welt» (siehe oben) etwa werden die unbehausten Protagonisten zum widerspielenden Paar. Ihre dominante Präsenz lässt sie, womöglich als (letzte) Überlebende eines nuklearen Winters, dem Frieden im Augenblick nachspüren. Nicht zuletzt der verblassende Hauch durchscheinender urbaner Konturen zeugt von gewesenen Zivilisationsspuren, somit von omnipräsenter Vergänglichkeit. Lippuner stellt die Begrifflichkeit der Authentizität in den Raum: «In der Klarheit des Geistes liegt die eigentliche Chance der Auseinandersetzung.» Der Künstler wird zum Diplomaten in höheren Diensten.

Homo pictor – Der malende Mensch

Zum Prozess der Genese eines Gemäldes gehöre bei ihm das Übermalen. Bis die Aussage stimmt, können Wochen vergehen, hin und wieder auch Jahre. Waren Lippuners Werke vor nicht allzu langer Zeit mehrheitlich strukturell gefasst und durch verschwenderische Liniengeflechte gekennzeichnet, sind seine Bilder inzwischen philosophische Miniaturszenen in Grossformat. Besonnen geht es da zu und her: «Es sind theatralische Kleindramen, in denen stille oder auch aufrüttelnde figurale Begegnungen stattfinden. Am Narrativen habe ich wohl einen Narren gefressen», bemerkt Lippuner mit einem Strahlen. «Märchen- und alptraumhaft sollen sie erscheinen, diese meine Figürlichkeiten. Sich heimlich querverbinden, um diskrete Positionen zu gesellschaftspolitischen Fragen einzunehmen.»

Solche Aufladung geschieht dezidiert auch durch eine differenzierte Titelgebung: Die Parabel vom Ungebremsten (siehe unten), Kloaken des Wohlstands, Okupation der Topografie, Ideologische Verstrickung, Wächter der Unwissenden et cetera. Anekdotisch erwähnt er den SVP-Mann, der vom Kauf eines Gemäldes absieht, nachdem er mit der Titelgebung «Wo der Faschismus klammheimlich wuchert» konfrontiert wird. Lippuner echauffiert sich über eine Ostschweizer Institution aus dem Gesundheitssektor, die aufgrund der Betitelung «Nachgeburten» einen Rückzieher gemacht hat.

«Die Parabel vom Ungebremsten», 2010, Öl, Ölkreide, Acryl auf Leinwand, 170 x 120 cm. Bild: Christian Lippuner

Homo patiens – Der leidende Mensch

Das Leben führt Christian Lippuner an Grenzen, die er selber donquichottenhaft herausfordert. Die Frage nach der rein körperlichen Bewerkstelligung seines Werks tut sich auf. Die konkrete Ausformulierung des Bildes «In die Nacht ausbuchstabiert» (siehe unten) habe er «fast stur» betrieben. «Enge und Dichte der Linienführung», so erläutert er, «verursachten Probleme mit den Finger- und Handgelenken. Das musste so sein, diesen Leidensweg wollte ich zu Ende gehen.» – Feuert hier körperliche Malträtierung zu Glanzleistungen an oder wird ein unbedingter, ein soldatischer Kunstwille über Selbstgeisselung in die Schranken gewiesen? Vor langer Zeit sprach man von so etwas wie «Genie und Wahnsinn».

Auf technischer Ebene sind viele der Lippunerschen Werke von geradezu Walserscher Akribie, neben einer Grösse wie Elfriede Jelinek einer seiner bevorzugten Schriftsteller. Nicht durchgehend im Vollbesitz handwerklicher Fähigkeiten eines gesunden Körpers zu sein, heisst für Lippuner erst recht, nicht an irdischen Hindernissen zu verzweifeln. Gegen den Ausdruck «gebrechlich» wehrt er sich mit vehementem Schmunzeln. Seine Version: «Ich bin ‹gebunden› an meinen momentanen körperlichen Zustand, habe mich zu arrangieren gelernt, mit all den Zugeständnissen an das Profane: Schmerzen, Benommenheiten durch die Medikamentengaben oder auch nur die schwankenden Temperaturen im Atelier an der Poststrasse in Ermatingen.»

Eingeschränkte Bewegungsradien scheinen ihn also anzuspornen, sich noch eindringlicheren Fragen künstlerisch stellen zu wollen. Menschenmögliches mutiert zum Möglichen der Person des Künstlers. Lässt seine Kraft nach, liegt er tagsüber (fiebrig) im Bett, erholt sich, sinniert schicksalsergeben vor sich hin: «Den körperlichen Niedergang kann ich relativieren, die eigene Via Dolorosa erdulden. Nur ein einziges Mal habe ich bitterlich weinen müssen, als ich vor ein paar Jahren aufgrund sogenannter inflammatorischer Veränderungen meines peripheren Nervensystems weder sprechen, laufen noch rechnen konnte.»

«In die Nacht ausbuchstabiert», 2007, Zeichnung mit Ölfarbstiften auf Leinwand, 170 x 150 cm. Bild: Christian Lippuner

Homo ludens – Der spielende Mensch

Nachdem Christian Lippuner aktuell den Medikamentenkonsum reduziert hat, ist vorübergehende Lethargie neuer Dynamik und Frische gewichen. Er war immer guten Mutes. Die Ankäufe der St. Gallischen Kunstsammlung haben ihm Auftrieb gegeben, die Thurgauer seien da zurückhaltender. «Die Nichtaufnahme bei den jurierten hiesigen Werkschauen haben mich richtiggehend frustriert zurückgelassen», bekennt er, «ein paar wenige Bilder sind mittlerweile und zu meiner grossen Freude in die Sammlung des Kunstmuseums Thurgau gekommen.» Die Mitgliedschaften in Künstlerverbänden (visarte/Gruppe Xylon Schweiz) sind ihm Genugtuung. Verkaufen könne er im Grunde gut. Auf die Frage, was für ihn diese absolute Zuwendung zur Malerei bedeute, antwortet er in stichhaltiger Verträumtheit: «Musik, Gesang, vor allen Dingen Spiel.»

«Die Einheit brennt», 2017, Öl und Acryl auf Leinwand, ca. 150 x 218 cm. Bild: Christian Lippuner

Homo pulsans – Der pulsierende Mensch

Im Laufe weniger Jahre hat sich Lippuners Malduktus frappant gut herauskristallisiert. Inzwischen ist er beim Zwischenmenschlichen angelangt. Die gegenwärtigen Bilder strotzen vor hintergründigen, beinahe schon orakelhaften Beziehungen. In der momentanen Phase vermehrter Figurendarstellung stösst man auf in sich geschlossene Welten. «Nicht aber gedanklich abgeschlossen sind sie», bemerkt Lippuner, «denn gleichzeitig eröffnen sie den ganzen Kosmos, schenken ihn quasi zurück, während sie sich auftun.» – Da liegt wohl das dialogisch Schillernde seiner Sprache.

Was ihn überdies interessiere, sei gerade auch das Archaische des Holzschnitts oder der Radierung, obwohl er sich aus gesundheitlichen Gründen nur noch mit der Kaltnadel beschäftigen könne. Giacometti, Arp und Magritte nennt Lippuner als seine grossen Vorbilder. Und den US-amerikanischer Graffitikünstler, Maler und Zeichner Jean-Michel Basquiat. Die Kollegen, mit denen er Austausch pflegte, leider Gottes, sie seien gestorben oder nicht mehr greifbar: die Zürcher Grafikdesigner Fridolin Müller und Armin Hofmann, sein ehemaliger Zeichnungslehrer Alfred Kobel, dessen Vorsatz «Erst Mensch sein – dann etwas sagen» ihn zutiefst mit ihm verbindet.

Märtyrertum mit Pasta

Es sei zum «Kaputtlachen», dass ihn die Thurgauer Künstlergruppe anno dazumal mit der Begründung abgelehnt habe, er könne nicht malen und seine Bildsignaturen seien zu gross. Die Sektion «Bildende Kunst» des Internationalen Bodensee-Clubs, Region Überlingen, hingegen hat ihn mit Handkuss aufgenommen. «Aber», so hält Christian Lippuner fest, «meine generelle Liebe zum Thurgau würde ich niemals mit dem Grad der Akzeptanz meiner Malerei vermengen.»

Bevor es dann noch einmal ernst wird, zählt er auf Nachfrage das auf, was für ihn zum persönlichen Glück gehört: «Dreimal die Woche Pasta, die Salatsauce meiner Frau. Schöne reine Orte aufsuchen dürfen wie Neuseeland, den Untersee oder Sils-Maria.» Und genau aus der Region Maloja im Engadin - es war seine Geburtstagsreise - war er kurz vor dem Interviewtermin zurückgekehrt. «Dass sich die Menschheit - vernunftlos und kurzsichtig, wie sie ist - disziplinieren muss, steht ausser Frage», konstatiert Lippuner. Sollte es einen Gott geben, dann sei er wohl in ihm. Und bekennend schliesst er ab: «Ich glaube an mich, an die Liebe, die Arbeit und an das Wissen. An das Verschmerzen all meiner Erlebnisse und den Rat meiner Freunde.»

Interviewer János Stefan Buchwardt (links) und Interviewter Christian Lippuner (rechts) vor weisser Wand. Foto: Stefan Postius

www.christianlippuner.com

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